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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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vergessen wäre, dass diese Wahnsinnigen keine Spuren zurückgelassen ... dass wir diesen entsetzlichen Ort nie gefunden hätten. Wir können uns seiner Wirkung nicht entziehen.
     
    22. September 1942, 13:05 Uhr.
    »Spüren Sie es bereits?«
    »Was, Herr Carter?«
    »Die Augen Ihrer Männer. Ihre vorwurfsvollen Blicke. Ihren Hass, weil Sie sie an diesen entsetzlichen Ort geführt haben. Ich kann mich noch gut an dieses Gefühl erinnern. Ich —«
    »Ich spüre rein gar nichts. Sie irren sich.«
    »Sie verspüren keine ... Unruhe?«
    »Wegen dem bisschen Haut und Knochen? Das ist doch ...«
    »Ein Dutzend Leichen von einer anderen Expedition. Die aussehen, als sei es erst gestern passiert.«
    »Halten Sie den Mund!«
    »Natürlich. Worte sind gefährlich.«
    [Langes Schweigen.]
    »Erzählen Sie mir, was Ihren Leuten widerfahren ist.«
    »Wir haben den Code geknackt.«
     
     
    Der illustrierte Mann
     
    4. April 1921. Wir konnten von Anfang an ausschließen, dass es sich um eine Alphabet- oder eine Silbenschrift handelte und mit großer Sicherheit auch nicht um Hieroglyphen oder Piktogramme. Diese Kurven und Punkte sind so abstrakt, so fließend geometrisch, dass sie nach all dieser Zeit selbst dann nicht ihr Geheimnis preisgäben, wenn man sie noch Jahre lang untersuchte. Hobbsbaum weigert sich jedoch zu gehen, bevor er die Zeichen entschlüsselt hat. Zugegeben, auch ich bin angesichts dieser illuminierten Häute seltsam gelähmt. Irgendwie wirken sie unfassbar vertraut, ihnen ist etwas eigen, das mich bis in die hintersten Winkel meines Verstandes unentwegt beschäftigt — wie wenn man das Gesicht von jemandem sieht, den man vielleicht während der Schulzeit gekannt hat oder damals in Frankreich, aber ganz gleich, wie sehr man sich bemüht, man kann es nicht zuordnen. Man weiß, dass man diesen Menschen kennen sollte, aber es fällt einem einfach nicht ein, woher.
    Mir ist da ein Gedanke gekommen ...
     
    Ich bin überzeugt, dass eine der Häute, die Pechorins Männer aus den Tiefen von Kur geholt haben, eine Karte der Sternenkonstellationen gewesen sein könnte, wie sie in jener Zeit ausgesehen haben. Doch die Sterne sind nicht zu Tieren oder Gegenständen miteinander verbunden wie bei den klassischen Astrologen; die Zeichen wirken ebenso abstrakt wie die Schrift auf allen anderen Häuten. Einige sind in die Wände der äußeren Höhle gemeißelt, in der wir unser Lager aufgeschlagen haben, mit urarattanischen Anmerkungen, bei denen es sich durchaus um Übersetzungen handeln kann — Versuche späterer Besucher, entweder die Bedeutung oder die Namen der Konstellationen abzubilden. Auch in diesen Abschriften stoßen wir auf abstrakte Begriffe, auf Mehrdeutigkeiten, als stelle jede ›Konstellation‹ eine ganze Gedankenwelt dar. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr sehe ich diese Karten als Kodebücher, als Wörterbücher dieser Sprache.
     
    6. April 1921. Jedes Symbol steht für einen Punkt auf der Zeitlinie. Davon bin ich überzeugt. Sie repräsentieren nicht Dinge, nicht Gegenstände, sondern Ereignisse, Veränderungen, Formen der Macht in Bewegung — nicht einen Höhlenlöwen, zum Beispiel, sondern den kraftvollen Bogen seines Sprungs, die tödliche Wucht seiner Klauen. Nicht einen Vogel, sondern die schwungvolle Bewegung seiner Flügel, wenn er sich in die Lüft erhebt. Ich bin mir sicher, dass die Tätowierungen nicht aus Wörtern oder Silben bestehen, nicht einmal aus Buchstaben, sondern aus phonetischen Elementen, den Veränderungen des Luftstroms, der Form, die die Zunge beim Sprechen annimmt.
    Als ich das Hobbsbaum gegenüber ansprach, wirkte er einen Moment lang fassungslos, aber dann nickte er und grinste wie ein Idiot. Pechorins Blicke hätten mich töten können. Aber auch er nickte schließlich. Ich weiß, dass ich Recht habe. Diesen Symbolen wohnt eine Macht inne, die geradezu hypnotisch ist. Noch während wir drei miteinander sprachen, fügte sich alles zusammen. Die Symbole bedeuten die Artikulationsstellen und die Art und Weise des Ausdrucks — plosiv, frikativ, approximant und dergleichen — und den Wechsel zwischen diesen, stimmliche Eigenschaften, Stimmlage, Rhythmus.
    Jetzt kommt es nur noch darauf an, das System zu begreifen. Zwar kennen wir seine eigentliche Bedeutung noch nicht, aber wenn das System so einfach ist, wie es aussieht, dann können wir die Wörter dieser Sprache fast genauso rekonstruieren, wie sie einst ausgesprochen wurden.
     
    Aber je mehr Zeit wir an

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