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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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hinaus musste ich aber auch, und das empfand ich als sehr ungewöhnlich, an Schützengräben denken, an den Geruch von Gas und Tod. Einmal — und es fällt mir schwer, das niederzuschreiben — musste ich einen Augenblick lang stehen bleiben, und nur Hobbsbaums Hand auf meiner Schulter, seine arglose Frage, ob es mir gut gehe, riss mich aus meinen Gedanken und führte mir vor Augen, wie verdammt töricht ich mich benahm.
    Es muss daran gelegen haben, wie es dort unten roch — ein merkwürdig ätzender chemischer Geruch, der umso stärker wurde, je tiefer wir in die Höhlen vorstießen. Das scheint absurd, denn er glich in nichts dem Verwesungsgestank, den ich nie ganz aus meinen Träumen verdrängen kann. Ihm gleicht nichts auf der Welt. Ich weiß nicht, warum er mich so mitnimmt. Vielleicht lag es nur daran, dass ich ihn nicht zuordnen konnte. Verrottendes Metall, Benzindämpfe, gekochtes Blut, Schwefel oder Ammoniak — ich könnte beschwören, dass er nach alledem roch und doch nach nichts dergleichen.
    Wenn dieser Geruch natürlichen Ursprungs ist, hat die Natur ihre Kinder schon vor langer Zeit verstoßen.
     
     
    Haut und Knochen
     
    2. April 1921. Hobbsbaum hat die Haut auf einer Steinplatte ausgebreitet, um sie zu untersuchen. Dieses über und über mit geheimnisvollen Zeichen bedeckte Felsengelass bietet einen makabren Anblick. Erleuchtet wird es von den flackernden Laternen, die um die Steinplatte herum aufgestellt sind. Hobbsbaum nimmt die abgezogene Menschenhaut in Augenschein wie ein Arzt aus einem anderen Zeitalter, der seinen Schülern Anatomieunterricht erteilt. Sein Finger bewegt sich wie ein Skalpell, zieht die Muster nach; ich beobachte ihn, wie er damit vom Hals bis zur Leistengegend über die Haut fährt und dann einem anderen Verlauf der Schrift über die flache Brust hinweg folgt — eine Travestie des katholischen Segens.
    Er ist überzeugt, dass es sich bei den schwarzen Spiralen und Kreisen, Linien und Punkten, dem ganzen filigranen Muster aus geometrischen Zerrbildern tatsächlich um Schrift handelt. Ich kann ihm da nicht ganz folgen. Ich mag nicht glauben, dass die monströsen Geschöpfe, die die Scheußlichkeit in den Höhlen unter unseren Füßen geschaffen haben, zu etwas anderem in der Lage waren als zu den barbarischsten Gräueltaten. Ich will es nicht glauben. Mich schaudert noch, während ich diese Worte schreibe.
     
    Auch die Männer sind zutiefst schockiert. Das ist durchaus verständlich — es sind alles einfache Leute, junge Soldaten, und auch wenn der Tod für sie — wie für mich — bestimmt kein Unbekannter ist, muss es äußerst beunruhigend sein, mit ihm in einer solchen Größenordnung und einer solch unmenschlichen, fremdartigen Weise konfrontiert zu werden. Ich muss an einen arabischen Führer denken, der im Tal der Könige vor einem Grabmal steht und sich weigert, noch einen Schritt zu tun, die Hände erhoben, um böse Geister abzuwehren. Aber ich muss auch an seinen Sohn denken, der über seinen Aberglauben lachte und uns hineinwinkte. Ein bemaltes Grabmal, sagte er wegwerfend. Ein toter König. Viel Gold. Ihm war etwas klar geworden, was sein Vater nicht verstand — letztendlich war das dort drin nur ein toter verdorrter Leib, ganz gleich, wie prächtig er auch herausgeputzt sein mochte. Ein Grab ist ein Grab, da spielt es keine Rolle, ob der Leichnam in einem Goldsarg liegt, in ein Leichentuch gehüllt ist oder in einer Khakiuniform steckt, ob er mit Salz oder Natron zur Ruhe gebettet wird, in Formaldehyd oder einfach nur mit Blumen in der Erde.
    Hobbsbaum verbirgt seine Gefühle hinter intellektueller Neugier, aber ich merke ihm an, dass er nicht unberührt davon ist. Nur Pechorin scheint der Anblick von Kur kalt zu lassen. Er ist kein Mensch, sondern ein mitleidloses Reptil. Er steht hinter dem Professor und betrachtet die tätowierte Haut, als sei sie eine Landkarte, auf der ein verlorener Schatz eingezeichnet ist — eine Landkarte, die nur er lesen kann. Er und Hobbsbaum unterhalten sich leise miteinander.
     
    3. April 1921. Es ist unglaublich, wie gut alles erhalten ist. Zugegeben, die Bedingungen in der Höhle sind ungewöhnlich geeignet dafür, aber nicht einmal die faulige Luft würde ausreichen, um die Haut so gut zu trocknen. Diese Leute müssen über Konservierungstechniken verfügt haben, die diejenigen der Pharaonen weit übertrafen. Allmählich wünsche ich mir, es wäre nicht so gewesen — dass die Haut, die vor uns liegt, verrottet und

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