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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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möglichen Lage Arattas. Was weißt du über die Geographie des georgischen Kaukasus, fragte er mich; der Fluss, der von Tiflis in südöstliche Richtung zum Kaspischen Meer hinabfließt — wie heißt er? Der Kur, antwortete ich, und da wurde mir klar, was er dachte. Wie heißt der große Fluss im Norden in den sumerischen Texten und wie die großen Berge im Norden und wie die Stadt, in der die Seelen der Toten wohnen? Sie haben alle denselben Namen, Carter, alter Knabe, nicht wahr? Kur.
     
    Was ich empfand, als er das sagte, kann ich kaum in Worte fassen. Über die Absurdität seines Unternehmens hätte ich am liebsten gelacht. Ich hätte ihn dafür verfluchen wollen, dass er mich angelogen hatte, oder ihn bemitleiden, weil er sich selbst etwas vormachte. Er bramarbasierte weiter über den Fluss Kur und dass eben dieser Name schwarz auf weiß auf der Karte stand, nach der wir uns richteten, der Fluss, den wir alle überqueren müssen, um in die Unterwelt zu gelangen, das Haus aus Staub und Asche, und plötzlich packte mich das Grauen darüber, dass ich mit einem Verrückten unterwegs war, dass er den Verstand verloren hatte. Und doch entbehrte seine Idee nicht einer gewissen Großartigkeit. Was ist, wenn er Recht hat? Was ist, wenn wir sie finden? ›Die Stadt im Norden.‹ Natürlich ist sie nur ein Mythos. Natürlich ist sie nur eine Legende.
    Wie Troja.
     
     
    Die Knochenzeit
     
    »Sie haben keine Spuren hinterlassen, weil sie selbst Fährtenleser waren. Wenn sie nur einen von Menschenhand geschaffenen Gegenstand zurückließen, der verriet, wo sie sich aufgehalten hatten — so glaubten sie —, konnte der Alte Jäger, der Tod, sie finden und sich an ihren Seelen gütlich tun. Also verwendeten sie alles immer und immer wieder, und wenn etwas nicht mehr wiederverwertet werden konnte, wenn die zerbrochenen Speerspitzen nur noch nadeldünn, die zerlumpten Kleider nur noch lose Fäden waren, verbrannten sie, was übrig war, und verstreuten es in alle Winde. Eine Gesellschaft vollkommener Jäger und Sammler. Sie durchstöberten und bargen alles, verwendeten sogar ihre Toten als Materialressource. Die Haut ihrer Brüder trugen sie am Leibe, aus Schädeln tranken sie und ihr Fleisch verzehrten sie.
     
    1. April 1921. Einer unserer Jungs, einer der Briten, hat es gefunden. Der junge Kerl — Messenger heißt er — ist ganz zufällig darauf gestoßen, als er gemeinsam mit einem der Südosseten die dunkleren Winkel der Höhle erforschte. Was sie da unten zu suchen hatten, ist mir schleierhaft, aber vermutlich bewahren wir uns aus unserer Jugend eine gewisse Faszination für das Unbekannte, jenes Verlangen, die Finsternis zu ergründen, unsere Kindheitsängste zu überwinden und verbotene Orte hell auszuleuchten.
    Aber, mein Gott, der Lärm, den der Junge veranstaltete und wie er in der Tiefe widerhallte und dabei immer lauter zu werden schien! Fast hätte man meinen können, er versuche, die Toten aufzuwecken.
     
    »Die Macht, die meine Vorfahren empfunden haben müssen!«
    »Sie kapieren immer noch nichts, was? Das ist fünfzehntausend Jahre her. Bevor Ihre verfluchte arische Rasse überhaupt existiert hat. Eine Zivilisation in der Steinzeit — die Knochenzeit sollten wir sie lieber nennen. Mathematik und Mythologie, Karten und Geschichte, Schrift — zehntausend Jahre vor Sumer.
    »Was wissen Sie über diese Schrift?«
    »Sie durften keine Spuren hinterlassen, also haben sie ihre Schriftzeichen nicht in Felsgestein geritzt, sondern in Tontafeln oder Holz. Sie haben sie auf der Haut stets bei sich getragen. Um keine Spuren zu hinterlassen.«
    »Aber das haben sie trotzdem.«
    »Das haben sie. Und wir haben sie gefunden. Wir haben den Hauptgewinn gezogen.«
     
    Wir folgten den fernen, geisterhaften Stimmen, als Erster ich, Hobbsbaum dicht hinter mir, Pechorin ihm auf den Fersen. Wir quetschten uns durch enge Spalte, und auf den schlimmsten Abschnitten mussten wir uns krümmen und ducken. Zum Glück bin ich nicht klaustrophobisch veranlagt, sonst wäre das angstvolle Klopfen meines Herzens unerträglich geworden. Ich fühlte mich sowieso schon auf sonderbare Weise zwischen zwei Erinnerungen, zwischen zwei Geisteszuständen hin und her gerissen. Ich musste an all die Ausgrabungen denken, auf denen ich den Alten schon begleitet hatte — wie wir im Dämmer durch niedrige Grabkammern, durch Hügelgräber und untergegangene Paläste gekrochen waren. Allmählich erfüllte mich doch erwartungsvolle Erregung. Darüber

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