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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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systematisch auseinander, in geistiger wie in materieller Hinsicht. Riesige Tische waren mit Brieftaschen bedeckt, andere wiederum mit Armbanduhren, ganze Räume voll mit Schuhen. Hatte ein Gefangener das Martyrium des Alltags überlebt, wurde er schließlich ein letztes Mal nackt ausgezogen, vergast und verbrannt. Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass er irgendwann während dieser Prozedur einer ›Sonderbehandlung‹ unterzogen wurde. Dabei wurde ihm seine tätowierte Haut abgezogen, gegerbt und vielleicht zu einem Lampenschirm verarbeitet.
    Noch immer weiß ich nicht, was mit meinem Großvater – meinem Namensvetter – geschehen ist.
     
    Ich berühre die Haut des toten Gottes nur ganz leicht, und das leise Summen, das von ihr ausgeht, wird stärker. Wenn ein Laut eine Form haben kann, dann ist das hier die wirbelnde Säule eines sich nähernden Tornados. Wenn ein Laut eine Form haben kann, formt dieser Laut die Welt dann neu? Dieses Geräusch, dieses leise Echo der Stimme eines anderen Jack Carter, der den Namen Gottes abliest – ich glaube, wenn ich ihn hier und jetzt ausspräche, streifte die Welt selbst ihre Haut ab, und darunter kämen ihr Fleisch und ihre Knochen zum Vorschein. Und wenn eine Form, ein Laut, eine Bedeutung haben kann, eine emotionale Bedeutung, dann ist es Angst, die dieses Ding ausstrahlt – diese Haut, dieses Geräusch, das es verursacht und das überall in Kur zu hören ist, überall in meinem Körper; Angst oder vielmehr etwas weit Subtileres, etwas weit Komplexeres, das mit Angst nur entfernt verglichen werden kann.
     
    Kann ich es denn in Worte fassen, was ich empfinde, wenn ich diese mit komplizierten Mustern bedeckte Haut betrachte? Entsetzen? Ja, aber nicht das Entsetzen vor dem Unbeschreiblichen, dem Namenlosen. Ich glaube, mir graut vor den Dingen, die ausgesprochen werden, denen wir entgegentreten und die wir benennen müssen, damit wir nicht ausgelöscht werden. Manche Dinge, so schrieb mein Großvater, bleiben besser ungesagt. Andere Dinge, glaube ich, können jedoch nicht ungeschrieben bleiben.
     
    Ich kann nur feststellen, dass ich mich in der Hölle befinde und das Lied aller verdammten und sterbenden Seelen hören kann, die jemals von grenzenlosem Grauen überwältigt den letzten Atemzug getan haben, von der Altsteinzeit bis heute. Und ich habe Angst, denn ich weiß, dass ich all das wie schon mein Großvater mit mir nehmen werde, wenn ich diesen Ort verlasse. Und vielleicht wird es mich nicht mehr loslassen, mich in den Wahnsinn treiben wie alle anderen auch. Aber eins weiß ich genau. Ich werde diesen Laut nicht ungeschrieben lassen.
    Jack Carter
    Kur, 1999

Errata

 
     
    Über der Schädelgrube
     
    »Schau doch«, sage ich ungeduldig und schnippe vor Pucks Augen mit den Fingern, um seine Aufmerksamkeit wieder auf das zu lenken, womit wir uns gerade beschäftigen. Das Buch liegt offen auf dem Stahlrost, den ich über die Grube gelegt habe, nachdem ich die Schädel dort wieder zur Ruhe gebettet hatte – etwas Besseres ist mir nicht eingefallen. Mir erscheint es wenig sinnvoll, sie einzeln zu begraben und leere Worte über den sterblichen Überresten eines Fremden zu murmeln. Bestenfalls würden sie dann in einem flachen Grab liegen, mit sich allein und anonym, und so scheint es angemessener, sie wieder in die Gruft zu legen, aus der sie kommen und wo sie unter den zahlreichen anderen Schädel wenigstens eine Bedeutung haben.
    »Schau dir diese Umrisse hier an, diese kleinen Kringel bei jedem fünften. Das sind ganz offensichtlich Höhenlinien. Hier kannst du sie noch besser erkennen.«
     
    Ich blättere ein paar Seiten weiter bis zu der Karte, die den Mount Oblivion fast in seiner ganzen Größe zeigt. Die Zahlen auf den Karten ließen sich bisher immer recht einfach übersetzen, auch wenn die Schrift sich mit der Gegend ändert – hier sieht sie wie Urkyrillisch aus, dort fast wie Arabisch. Es bedarf keiner großen Mühe, zwischen den Linien und dem Auf und Ab unserer Umgebung einen Zusammenhang herzustellen, sie nach Linearitäten anzuordnen und die Zahlenbasis des Systems auszurechnen. Das mag einige Zeit in Anspruch nehmen, aber was haben wir hier im Vellum, wenn nicht Zeit?
    »Siehst du, wie die Zahlen bei jedem Umriss größer werden, je näher wir der Mitte kommen?«
    »Erstaunlich«, sagt Puck. »Willst du damit sagen, dass es ... eine Landkarte ist?«
     
    Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu.
    »Ja. Aber die Karte stimmt nicht.«
    Und

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