Vellum: Roman (German Edition)
Unterschied. Was für eine Vorstellung von Identität!
Und ich erinnere mich daran, gelesen zu haben, dass diese archaische Schrift auf sonderbare und subtile Art die Summe aller Weisheit und aller Kenntnisse ihres Trägers ist. Die Muster wurden umso komplizierter und verwickelter, je größer und umfangreicher die Erfahrungen und das Vorstellungsvermögen jedes Einzelnen war. Ein Jugendlicher erhielt zuerst nur seinen Namen eintätowiert, ein verschlungenes Muster, das sich über sein Gesicht erstreckte und das nicht nur erkennen ließ, wer er war, sondern auch, was er war, woher er stammte – seine Rolle, seinen Status. Wie sich der Name in das Muster auf dem Gesicht einfügte, so sollte auch der junge Mensch sich in die Gesellschaft einfügen, in die Welt. Und tatsächlich – die wenigen leeren Häute, die zwischen den anderen hängen, sind kleiner, jünger, die von Kindern, die nie das Erwachsenenalter erreichten. Ihre Nacktheit lässt sie noch grausiger erscheinen.
Ich gehe die Straße der Knochen hinunter, dem Zentrum von Kur entgegen. Zwischen den sich blähenden Häuten zweigen weitere Straßen in die Stadt ab. Konstruktionen aus auf Knochen aufgespannter Haut bilden Zelte, Hütten, bizarre Gebäude entlang dieser Straßen. Wenn ich durch geraffte Vorhänge oder leere Fenster hineinschaue, erhasche ich Blicke auf lange Reihen aufgehängter tätowierter Häute, auf hohe Stapel säuberlich zusammengelegter Menschenhaut. Jede einzelne davon enthält verschlüsselte Informationen, die fünfzehntausend Jahre alt sind. Eine Bibliothek der Toten.
Wie wäre es, eine Sprache zu entdecken , hat mein Großvater geschrieben. Wie wäre es, aus diesen Häuten ein Buch zusammenzutragen, ein Buch, in dem die Namen der Toten stehen, das Wesentliche ihres Lebens – ein Buch, in das du hineinstarrst und aus dem Gesichter deinen Blick erwidern? Wäre die Folge eine Welt mit lauter Wahnsinnigen, so katatonisch wie der einzige Mensch, von dem ich weiß, dass er ein paar Seiten der Übersetzung verstanden hatte? Ich steige nach Kur hinunter, in dem sicheren Bewusstsein, mich für die Wahrheit entschieden zu haben. Ich kann nicht glauben, dass es unbeschreibbare Gefühle gibt, dass irgendwelche Dinge nicht benannt werden können.
Immer wieder stoße ich auf Häute, die an der Taille oder am Brustkorb abgeschnitten, aus denen ganze Stücke herausgetrennt worden sind, von Plünderern gefleddert und gestohlen, und da werde ich dann doch nachdenklich. Das kann zu jeder Zeit während der vergangenen fünfzehntausend Jahre geschehen sein. Diese Leute waren die Pharaos ihrer Epoche, die großen Häuptlinge und Schamanen der Altsteinzeit. Es gab keine Reichtümer im Sinne von Gold oder Edelsteinen, keine Werke von Menschenhand, die wertvoller gewesen wären als das, was aus den Toten selbst geworden war. Aber das genügte ihnen, und irgendwo dort draußen gibt es möglicherweise einen magischen Text, in einer vergessenen Sprache auf Menschenhaut geschrieben, zu einem Buch gebunden, zu einem Namensbuch der Toten. Ich gehe weiter.
Der tote Gott
Das Zelt steht genau in der Mitte der Stadt, rund eine Wegstunde von dem Schlachtfeld am Eingang zur Hölle entfernt. Es ist vielleicht sechs Meter hoch und spannt sich wie ein Spinnennetz weit über den Platz. Allerdings scheint es an den falschen Stellen umgeschlagen zu sein. Der Eingang ist mit der dünnsten, weichsten Haut verschlossen, die ich je berührt habe, mit mehreren Schichten, wie Schleier. Ich wische sie beiseite und hinter mich, schiebe mich durch sie hindurch, auf die Mitte zu. Dort steht eine Bahre oder etwas Ähnliches.
Er oder es liegt auf einem ausgebleichten Knochengerüst – seinen eigenen Knochen? –, mit Sehnen und Elfenbeinhaken straff festgespannt, in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit darauf ausgebreitet wie ein purpurrotes Leichentuch, das mit den Strömen und Spritzern des scharlachroten Blutes einer Gottheit befleckt ist. Die Tätowierungen leuchten rot auf roter Haut – Farben aus Ton, Terrakotta, Blut, Feuer – gleichermaßen Skarifizierung wie Tätowierung. Die Schnüre aus Gedärmen, die ihn in das Knochengerüst eingewoben haben, vibrieren im Wind, in ihnen hallt ein ferner Ton wider. Den Widerhall der Akkorde spüre ich auch in meinen Eingeweiden, Wut und Wahn. Ich habe sogar Angst zu sprechen, denn ich frage mich, ob diese Sprache, die so rein und genau ist, dass sie die Gedanken derjenigen, die sie hören, neu
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