Vellum: Roman (German Edition)
schreibt, nicht sogar die Wirklichkeit neu schreiben könnte.
Ich muss gar nicht erst den Namen auf seinem Gesicht ansehen, um zu wissen, dass er der erste Mörder ist, der erste Rebell, der Erste der sterblichen Engel, der Erste, der sich über alles andere gestellt, der sich gegen seinesgleichen gewendet hat und mit seinem Namen ihren Seelen ein Entsetzen einprägte, dem mit Vernunft nicht beizukommen war. Ich bin froh, dass ich diesen Namen nur in der Transkription Hobbsbaums oder des armen Stenographen gelesen habe, in einer schlechten, unzureichenden Transkription, ohne Stimmlage und Betonung, ohne die kalte Präzision seiner echsenhaften Erhabenheit. Ich bin froh, dass ich nur die Transkription / h ja w ve/ erkenne, wenn ich die Symbole auf seiner Stirn betrachte, nur die Oberfläche der Worte, der Knochen, und nicht seine wahre Gestalt. Jahwe oder Jehova, der Gott der Juden? Zeus oder Jupiter, die Namen des Deus, den Äneas auf seiner Flucht aus dem gefallenen Troja an der Küste Anatoliens nach Rom mitgebracht hatte? Oder Jafet, Noahs Sohn, der zur Zeit der Sinnflut lebte? Der Titan Iapetos, Vater des Prometheus? All das sind nur Annäherungen, Verstümmelungen des Originals, ein Widerhall des wahren Namens. Sprache verändert sich im Laufe der Zeit, und vielleicht ist das auch gut so.
Auf diesem Geschöpf namens / h ja w ve/ liegt ein Fetzen Papier, den vielleicht mein Großvater dorthin getan hat oder Hobbsbaum. Aber darauf steht nichts, und dieses Schweigen wirkt irgendwie absonderlich in dieser Welt der Worte, deren Flüstern jeder in sich hören kann, auch wenn nicht ganz klar ist, was sie bedeuten. Ich habe Übersetzungen gelesen, Rohübersetzungen, aber das System habe ich nicht gelernt, den einfachen phonetischen Schlüssel, der die Worte selbst verständlich macht. Und trotzdem kann ich die Sprache spüren wie etwas, das in meinem Hinterkopf lauert, wie das Klappern und Zischen einer Schlange, die sich sprungbereit zusammengerollt hat.
Es fällt mir schwer, genau zu beschreiben, was ich empfinde. Bevor ich hierher gekommen bin, habe ich einige Nachforschungen angestellt, unter anderem über das Leben des Samuel Hobbsbaum nach seiner Expedition 1921 nach ›Aratta‹. Wie mein Großvater in seinem Tagebuch erwähnt hat, veröffentlichte der Professor von jenem Tag an kein einziges Wort mehr. In den Naziarchiven in Ostberlin findet sich jedoch ein Vermerk, dass er ein ›handgeschriebenes Manuskript von über einhundert Seiten‹ bei sich hatte, als er 1940 festgenommen wurde. Ungefähr zwanzig davon habe ich gesehen – Strang hat sie mir nach seinem Tod geschickt. Allerdings habe ich keine Ahnung, wo die verbliebenen Seiten sind.
Und jetzt stehe ich hier und betrachte die Haut eines toten Gottes, das leere Blatt Papier. Ich lausche dem Geräusch der sanften Brise und höre in ihr das Flüstern jener Sprache, ihren Widerhall. Wenn ein Laut eine Form haben kann, dann ist der Liedtext von Kur ein fleischgewordener Laut.
Hobbsbaum ist tatsächlich in einem Konzentrationslager gestorben, wie Strang meinem Großvater – meinem Namensvetter Mad Jack Carter – berichtet hat. Was er für sich behalten hat – oder was mein Großvater vielleicht nicht niedergeschrieben hat –, ist: Irgendwann nach der 21er Expedition ist Hobbsbaum in den Fernen Osten gereist, wo er sich bei einem orientalischen Meister aufwendig hat tätowieren lassen. Glaubt man denjenigen, die diese Tätowierung gesehen haben, dann war sie sehr schön, aber nicht gegenständlich – nur feine geschwungene Linien, Punkte und Kreise. Ich habe mit jemandem gesprochen, der sie mit der Feuillet-Notation verglichen hat, die von Tänzern verwendet wird, um einen Tanz ›niederzuschreiben‹. Jedem, der sie gesehen hat, ist sie im Gedächtnis geblieben.
Ich kann jetzt das Wort hören, den Atem, die Reibung und Aspiration. Überall in der Höhle kann ich es hören, und da wird mir bewusst, dass ich es schon die ganze Zeit höre, seitdem ich zu meiner Reise aufgebrochen bin, die Anspannung, die Drohung, die Gefahr. Mir wird klar, dass ich es schon mein ganzes Leben lang höre.
Seine tätowierte Haut
Hobbsbaum wurde im Juli 1941 nach Auschwitz gebracht und bekam die Gefangenennummer 569304 auf den linken Unterarm tätowiert. Sein genauer Todestag ist nicht festgehalten, aber wir können ihn rekonstruieren. Die Nazis raubten ihren Gefangenen alles, was sie besaßen, sogar die Goldzähne, sie nahmen jeden
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