Vellum: Roman (German Edition)
einer Kathedrale, mit Schnitzereien verziert, die so kompliziert anmuten wie ein Uhrwerk. Die Stufen unter meinen Füßen führen abwärts in eine Stadt der Bahren aus Knochen und Leder, ausgebleichtem Holz und papierdünnen Häuten von heller und dunkler Farbe. Fein ziselierte Linien ziehen sich überall über die Gräberstadt, und die stinkenden Dämpfe bilden Wirbel und Strudel, die so ineinander verschlungen sind wie die Inschriften auf den Hütten aus Fell und den Bannern aus zusammengenähter Haut. Ich halte den Griff der Lampe fest umklammert; mein Blick reicht vielleicht ein paar hundert Meter nach Kur hinein, doch die Stadt erstreckt sich weit über mein Blickfeld hinaus, immer weiter, weiter, weiter ...
Hautlose Leichen liegen überall über den Höhlenboden verstreut, in Stücke gerissen und mit verrenkten und zerschlagenen Gliedern. Ich nähere mich ihnen, setze vorsichtig einen Schritt vor den anderen, steige langsam hinab in die Hölle. Die Uniformen, die ihnen vom Leib gerissen worden sind, liegen überall herum. Der graue Stoff der Sowjets aus dem 2. Weltkrieg ist mir vertraut, alles andere nicht, aber ich vermute, dass es sich hier um die konterrevolutionären Söldner handelt, die Hobbsbaum 1921 angeheuert hatte. Die verstreuten Überreste zweier Expeditionen, die im Abstand von zwanzig Jahren unternommen worden waren, von meiner Zeit eine ganze Welt entfernt. Ich versuche, mir möglichst nicht vorzustellen, wie sie sterben, wie ihnen die Haut abgezogen wird.
Das tote Fleisch sieht makellos aus, ohne die geringsten Anzeichen von Verwesung. Ein blutiges Schauspiel, das noch so lebensecht ist wie an dem Tag, an dem es aufgeführt wurde – mit Ausnahme des vergossenen Blutes, das überall im Staub getrocknet ist. Manche sind auf Elfenbeinpiken aufgespießt, andere von Kopf bis zum Schritt aufgeschlitzt, der Brustkorb aufgerissen – Leichen nach der Obduktion, aufgerissenes Geschenkpapier. Viele sind skalpiert worden. Einer ist mit den Armen über einen hölzernen Querbalken gehängt worden, der so silberfarben leuchtet wie der Mond. Sein Kopf ist zur Seite geneigt – ein erbärmlicher Christus. Ich knie neben einem anderen nieder, der vor mir auf dem Boden liegt.
Seine Gesichtshaut ist auf seiner Brust ausgebreitet, er hält sie in den Händen wie ein Gebetbuch, getrocknetes Blut unter den Fingernägeln. Sein Mund ist zu einer wilden Grimasse verzerrt, und zwischen den Zähnen hält er einen großen Bissen Haut, ungefähr ein Dutzend Fetzen, irgendwie triumphierend, wie ein Hund, der Scheiße frisst. Mir fällt auf, dass auf der Innenseite seiner Arme Hautstücke fehlen, die so groß sind wie diese Fetzen. Ich schaue mich um; viele von den anderen haben an den Schultern ähnliche Wunden. Mit großer Anstrengung gelingt es mir, ihm die Kiefer auseinanderzuzwingen und die Hautfetzen herauszuziehen. Darauf stehen Divisionsnamen und Kennziffern. Von den Nazis wurden wie zum Hohn ausgerechnet zwei verschiedene Gruppen von Menschen mit Tätowierungen versehen – die Opfer der ›Endlösung‹ und die SS-Männer, die sie durchgeführt haben.
Hinter diesen Toten windet sich eine massive Wand aus Knochen um die Stadt herum. Durch das Tor, das vor mir liegt, führt jedoch eine Straße gerade wie ein Elfenbeinspieß in das Herz von Kur hinein. Sie ist mit Schädeln gepflastert. Irgendetwas zieht mich weiter vorwärts, der Mitte von Kur entgegen. Was mag dort wohl sein, wenn es zwei Dutzend Männer dazu gebracht hat, einander buchstäblich in Stücke zu reißen? Etwas, das mein Großvater zweimal gesehen und überlebt hat. Irgendwie hat er es beide Male hinter sich gelassen, von dem Anblick dessen, was er hier gesehen hatte, ein Leben lang gepeinigt. Ich betrete die Straße, allein.
Junker Roland kam zum Dunklen Turm .
Das Namensbuch der Toten
Ich schreite eine Allee hinunter, an der rechts und links Hautanzüge flattern; wie Segel blähen sie sich in der feuchten Luft. Hier unten dürfte eigentlich kein Wind wehen, doch das leise Heulen ist unüberhörbar. Es dringt von weither zu mir herauf wie ein Widerhall aus ferner Zeit. Ausdruckslose Gesichter starren auf mich herab, leere Augen und leere Münder. Ihre ›Namen‹, wenn man sie so bezeichnen kann, sind ihnen auf die Stirn tätowiert. In den Tagebüchern meines Großvaters oder in Hobbsbaums Aufzeichnungen steht: Das Wort für ›Gesicht‹ scheint mit dem Wort für ›Name‹ identisch zu sein. Da machen sie keinen
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