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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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ich weise ihn auf einige Diskrepanzen hin. Zugegeben, allzu viele sind es nicht, aber es gibt sie – ein Grat, der sich da befindet, wo er nicht hingehört, ein Tal, dessen Wände steiler sind als in Wirklichkeit. Sie sind so minimal, dass ich sie als unbedeutende Folge der Müllschichten abgetan habe, die unter uns mal tiefer, mal weniger tief sind und die wahre Gestalt der Landschaft verdecken. Es sind die Zahlen, die nicht stimmen.
    »Verstehst du – wenn wir uns der Mitte nähern, erhöhen sich die Zahlen sprunghaft und werden immer größer. Erst dachte ich, es liege daran, dass sie einen ungewöhnlichen Maßstab verwendet haben, aber so sicher bin ich mir da nicht mehr. Woher auch? Auf diesen Seiten bin ich auf so manches seltsame Zahlensystem gestoßen. Auf den ersten Blick gleicht das hier dem sumerischen Hexadezimalsystem mit alternierender Basis, 6 und 30, 360 und –«
     
    Er lässt einen Finger kreisen – jetzt mach schon!
    »Das sind verdammte Exponentialzahlen«, sage ich. »Die Zahlen erhöhen sich exponentiell, und dieses kleine Symbol hier, direkt auf dem Gipfel des Mount Oblivion, ist kein verdammter Vermessungspunkt, wie ich erst dachte, sondern das verdammte Symbol für ›unendlich‹.«
    Puck blickt zum Gipfel des Berges hinauf. So kolossal und monströs Mount Oblivion auch scheinen mag, sehr hoch ist er nicht.
    »Und dieses kleine Symbol hier«, fahre ich fort, »das über den ganzen Zahlen – das ist ein Minuszeichen.«
    Puck und ich schauen einander an und senken dann langsam den Blick. Beide müssen wir an das riesige Loch unter unseren Füßen denken.
     
     
    Dämmerung auf dem Mount Oblivion
     
    »Sie könnte voll sein«, sage ich.
    »Scheiße, das ist eine Grube ohne Boden«, sagt Puck. »Wie kann sie da voll sein?«
    Wir fahren mit Höchsttempo den Kamm entlang, unsere Knochen werden durchgeschüttelt, und wir hüpfen auf dem Karren auf und ab, während ich mit meinen behandschuhten Händen fuchtle wie ein Wahnsinniger an einem Klavier, um die Waldoflügel so schnell wie möglich anzutreiben. Angesichts der grotesken gotischen Konstruktion unseres Karrens muss ich unwillkürlich an eine Kutsche in Transsilvanien denken, die Draculas Schloss hinter sich lässt.
    »Nun, es gibt unterschiedliche Stufen von Unendlichkeit«, erkläre ich. »Sagen wir, die Grube ist unendlich tief. Man brauchte einen unendlich großen Haufen Schrott, um sie zu füllen, und um ihn Stück für Stück hineinzutun, würde es einen unendlich langen Zeitraum brauchen. Theoretisch dürfte die Grube also nie voll sein.«
    »Also doch nicht? Du hast gesagt, dass sie voll sein könnte.«
     
    Jack stößt ein lautes Heulen aus, während er hinter uns herläuft, von Hügel zu Hügelchen springt, über Büsche hinwegsetzt, Bäumen ausweicht und schnurgerade Hänge hinunterrutscht, die wir überwinden müssen. Ich weiß nicht, wie er es schafft, mit uns mitzuhalten, aber er schafft es.
    »Aber mal angenommen, du hast eine unendliche Zahl von Welten, und alle produzieren sie einen unendlich großen Haufen Schrott, und alle werfen sie ihn Stück für Stück hinein: Das würde doch bedeuten, dass ein unendlich großer Haufen Schrott gleichzeitig darin verschwindet. Also ist die Grube ruckzuck voll.«
    »Und, ist sie das?«
    Der Karren rutscht auf dem Geröll weg, als ich mit großer Geschwindigkeit eine Haarnadelkurve nehme. Der Berg liegt jetzt direkt östlich von uns, und wir fahren ziemlich genau nach Westen. Damit nehmen wir einen Umweg von mehreren Tagen in Kauf, aber selbst bei dieser Geschwindigkeit wird es Tage dauern, bis wir uns nicht mehr über der Grube befinden. Es wäre nett, sich vorzustellen, dass die Grube voll ist.
     
    Ich muss an die Anderwelten des Vellum denken – an die Steppe der Abende, an Mount Oblivion, den Großen Graben, die Nachmittagsbucht. All die winzigen Dörfer und riesigen Städte, diese Kontinente wie Archipele, auf denen ich bereits so lange unterwegs bin, dass ich – wie mir plötzlich bewusst wird – keine Vorstellung mehr davon habe, wie alt ich bin. Himmel, wie lange begleitet Puck mich jetzt schon? Ich habe schon oft in Erwägung gezogen, dass das Vellum nicht so sehr die Ewigkeit ist, sondern die Summe aller möglichen Ewigkeiten; und alle Himmel, nach denen wir uns sehnen, befinden sich auch hier, ebenso wie die Höllen, vor denen wir uns fürchten. Allerdings gibt es niemanden, der dafür zuständig ist, dass wir am richtigen Ort landen. Vielleicht haben all

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