Vellum: Roman (German Edition)
aber wenn es so weit ist, verstecken wir uns hinter den Mauern von Endhaven, aus Angst, uns im Zwielicht zu verlieren, zu verschwinden.
»Nur noch ein paar Stunden«, sagt Jack, als ich ihn frage. »Dasselbe ist auch in den Städten geschehen.«
»Dann verstehst du wohl, warum ich Angst habe.«
»Nein«, sagt er. »Eigentlich habe ich nie verstanden, warum die Menschen hier sich das gefallen lassen.«
»Sie verschwinden schließlich nicht, weil sie es wollen.«
Er zuckt nur mit den Achseln.
»Das muss nicht so sein. Das muss nicht so sein.«
Weniger als ein Nichts
»Aaaah! Du Arschloch!«
»Selber Arschloch! Du bist ein Nichts.«
Eine Horde Kinder spielt im dichten Gras bei den hohen Holzwänden der Scheune des Lumpensammlers, die sich direkt hinter dem Hügelkamm erhebt. Ich denke, ich habe ihn vorhin gehört, als er aus der Stadt hinausgerumpelt ist; die Kinder würden sich niemals in die Nähe seines Hauses wagen, wenn er noch in der Nähe wäre. Ich suche den Horizont ab, und richtig, dort ist er, am anderen Ende der Stadt, auf einer schadhaften Straße, die von herbstlich braunem Gestrüpp überwuchert ist. Er hat sich wie ein Pferd vor seinen Holzkarren mit Säcken voll getrockneten Bohnen und Erbsen gespannt und zieht ihn langsam nach Westen, landeinwärts, Gott weiß wohin.
Wie es wohl jetzt in den zerstörten Städten aussieht? Vermutlich gibt es Überlebende, mit denen der Lumpensammler Tauschhandel treiben kann. Aber über die Bucht hinweg kann man sehen, dass kaum eines der Gebäude stehen geblieben ist. Ob die alten Stadtpläne noch etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben? Ob noch ein winziger Rest Normalität übrig ist? Oder gibt es dort nur noch Herumtreiber, die verzweifelt nach Nahrung suchen und sich — wie der Lumpensammler, wie Jack — gegen die Dämmerung wappnen konnten, die wir nicht ertragen können? Manchmal frage ich mich — wenn der Lumpensammler das kann, wenn Jack das kann, warum dann wir nicht?
Der alte Blake war der Meinung gewesen, er könne sich der Dämmerung stellen. Ich weiß noch gut, wie er dem Lumpensammler auf die Schuhe spuckte und ihm ins Gesicht lachte — nicht länger wolle er sich an die Übereinkunft halten, und verflucht solle er sein, wenn er sich dem Diktat eines Westentaschentyrannen unterwerfe! Ich weiß noch gut, wie er auf dem Hügelkamm zwischen den Windmühlen stand, an eine von ihnen gelehnt, und betrunken den Sonnenuntergang angrölte. Dann drehte er sich um, schwankte dabei, wandte sich der Dämmerung zu, die vom Meer heraufzog. Damals war ich erst acht oder neun, und ich weiß noch, dass ich im Bett lag und zu große Angst hatte, um aufzustehen und das Fenster zu schließen. Und so konnte ich seine Stimme hören, wenig mehr als ein empörtes, animalische Brüllen, das allmählich vom Tosen des Sturms übertönt wurde, und der Wind und der Regen hüllten ihn alsbald ein. Ich weiß nicht, ob er ganz langsam verblasste oder ob das Unwetter ihn aus der Wirklichkeit hinausriss, so wie ein Tornado einen Baum aus dem Boden reißt und nur ein paar Wurzeln zurücklässt. Ich weiß nur, dass er am nächsten Tag nicht mehr da war; der Lumpensammler dagegen schon.
»Du bist weniger als ein Nichts.«
Ein Mädchen zerrt einen alten Puppenwagen den Trampelpfad entlang hinter sich her, ein zweites Mädchen sitzt darin. Sie bleiben vor mir stehen, und die Jüngere beugt sich vor, um dem anderen Mädchen etwas ins Ohr zu flüstern; beide lachen, und die Ältere sagt etwas, von wegen ich sei krank. Kinder, die hohes Gericht spielen; es sollte mir nichts ausmachen, aber es trifft mich. Das Flüstern der Kinder in der stillen, toten Luft von Endhaven ist rauer als der kalte Wind am Strand.
Ihr seid einsam und allein, möchte ich am liebsten sagen, alle miteinander in eurem Plastikkonzentrationslager, und es gibt nichts, an dem ihr euch nachts festhalten könnt, nichts, das eure Seele am Leben hält, nichts, was an euch erinnert, wenn ihr verloren geht. Ich möchte es sagen, aber ich schweige. Ich gehe weiter, die Schultern gegen das kalte, verängstigte Gelächter hochgezogen.
Ein Marlene-Dietrich-Poster
Der pastellfarbene Plastikfertigbungalow, der sich mein Zuhause nennt, steht da, als wolle er gar nicht hier sein, als sei es aus Versehen von der Ladefläche eines Schwertransporters gefallen. Es hat alles, was zu einem solchen Haus gehört: einen niedrigen offenen Keller, eine Veranda unter einem niedrigen schrägen
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