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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Dach, falsche Holzwände. Es gleicht den anderen Häusern in Endhaven fast aufs Haar, und ich hasse ihn von ganzem Herzen. Es gibt keinen richtigen Garten, nur ein quadratisches Stück Land, das umgegraben ist und auf dem Wurzelgemüse wächst und Hülsenfrüchte an Spalieren. Ich nehme die Abkürzung hintenrum, zwischen dem Wassertank und der Hydrokultureinheit, ziehe mich an der Kellertür hoch (die auch falsch ist, dahinter befindet sich der Generator) und klettere durch das Fenster in mein Schlafzimmer.
     
    Das Zimmer ist klein und spartanisch eingerichtet: eine Luftmatratze und ein paar Steppdecken als Bett; ein Stuhl; ein Schreibtisch und ein Bücherschrank mit aufgelesenem Plunder. Ein verblasstes Marlene-Dietrich-Poster ist mit Klebeband an einer Wand befestigt, und auf der Rückseite der Tür hängt eine unscharfe Fotografie von Jack. Irgendjemand hat mein Mittagessen auf den Schreibtisch gestellt, der übliche Schlabberkram, mit einer Schüssel abgedeckt, damit es warm bleibt — eine winzige Portion kleingehacktes Dosenfleisch und ein ordentlicher Schlag Bohneneintopf — fade, aber nahrhafte Kost. In letzter Zeit sind Gewürze rar geworden. Ich esse es, ohne es wirklich zu schmecken, gedankenlos.
     
    Frau Dalley öffnet die Tür und bleibt stehen, ohne auch nur eine Zehe über die Schwelle zu strecken, sagt kein Wort, schaut mich nur vorwurfsvoll an und zupft sich unsichtbare Haare von ihrem schwarzen Kostüm. Sie sollte sich eher Gedanken über die deutlich sichtbaren Haare an ihrem grau melierten Kinn machen, denke ich. Als ich zu ihr hochsehe, erwidert sie meinen Blick, und nachdem die Leute mir so lange aus dem Weg gegangen sind, ist ihr vorwurfsvolles Funkeln seltsamerweise sogar eine Erleichterung. Wenn das Schweigen noch länger anhält, platze ich.
    »Das war lecker«, sage ich und schlucke den letzten Würfel Formschinken (glaube ich) hinunter.
    Keine Antwort. Hinter ihr taucht Frau Kramer in der Tür auf, ebenso still, ebenso ungnädig. Ich kann nicht behaupten, dass es nicht wehtut; wenn ich denn eine Familie habe, dann sie, und sogar während sie dort stehen und sich größte Mühe geben, wie alte Jungfern auszusehen, kann ich nicht vergessen, dass Frau Dalley einmal Tante Stef war und Frau Kramer Annie; eine von ihnen hatte bunte Perlen im Haar und einen Nasenring, und Annie hat sich vor mich hingekniet, um mir den Rotz und die Tränen vom schmutzigen Gesicht zu wischen, als ich ihr erklärte, ich könne mich nicht an meinen Namen erinnern, und sie sagte einfach nur: Na, dann nennen wir dich eben Tom.
    »Das tat gut«, sage ich. »Ich hatte Hunger.«
     
    »Der Lumpensammler war da«, sagt Frau Dalley. »Deinetwegen.«
    Sie beißt sich auf die Unterlippe.
    »Er hat eine Abrechnung beschlossen«, sagt Frau Kramer.
    Ich muss schlucken.
    »Wann war das?«, frage ich. »Ich meine — ich habe gesehen, wie er sich auf den Weg in die Stadt gemacht hat. Er ist fort.«
    »Er wird noch heute Abend zurück sein. Dann kommt er wieder her, um mit dir zu reden.«
    Frau Dalley wagt sich ein paar Schritte vor, um das schmutzige Geschirr vom Schreibtisch zu nehmen. Ihr Blick huscht nervös hin und her, flüchtig und distanziert. Was soll das bedeuten? Stecken Hass, Angst, Schuld, Kränkung dahinter? Wahrscheinlich von allem etwas und vielleicht, denke ich, ein Hauch von Liebe. Himmel, ich weiß noch, wie sie mich in den Schlaf gesungen hat, bevor wir nach Endhaven kamen, zu Frau Kramer — richtiger, zu Annie. Wie lange habe ich die beiden nicht mehr Händchen halten sehen? Fünf Jahre? Mehr? Die hässlichen Schwestern, sagt Jack von ihnen. Aber früher waren sie anders.
    »Es ... tut mir leid«, sagt Frau Dalley und geht ohne ein weiteres Wort hinaus.
     
     
    Saubere Wäsche und der Schein der Moderne
     
    »Jack? Jack?« Meiner Stimme ist anzuhören, dass ich allmählich fast hysterisch werde. Meine Hände zittern merklich, als ich am Türgriff zerre, der sich einfach nicht drehen lassen will. Ich wende mich bereits von der Tür ab, um den Bungalow zu umrunden und die Treibholzleiter zum Balkon seiner Wohnung hinaufzusteigen, als ich spüre, wie er von hinten die Arme um mich legt und seine kühle Gesichtshaut sich an meinen Nacken schmiegt.
    »Hee«, sagt er. »Qué pasa?«
    Ich drehe mich um und vergrabe meinen Mund an seiner Schulter, klammere mich an ihn, als könne der Boden mich nicht mehr tragen und als sei er einer der Stützpfeiler des Kosmos.
    »Alles in Ordnung?«, fragt er. »Was ist los

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