Vellum: Roman (German Edition)
in der Lage wären, würden wir mit den Achseln zucken. Es ist uns gleich – wir wünschen nur, wir könnten es.
»Nein, es ist ganz deine eigene Schuld«, plappert er in verblüffendem Zorn weiter.
Wir geben uns große Mühe zu verstehen, warum wir eine Bedrohung darstellen sollen. Dabei sind wir nur die träumenden Toten, die in den neuen Kleidern aus Staub erwacht sind, die du uns gegeben hast. Erlaube uns, dieses Geschenk zu erwidern und dir den Leib zu schenken, die Trauer und die Freude, die so nahe beieinander zu liegen scheinen, das Lachen und die Tränen. Aber nein:
»Ja, alles was dir jetzt widerfährt«, singt er im Cant, »hast du dir selbst zuzuschreiben. Dank deiner leichtsinnigen Torheit bist du in einem Netz aus unendlichem Jammer gefangen.«
Und so schieben wir unseren alten Herrn Metatron beiseite und durch diese sonderbare Welt hindurch, die ihr Raum und Zeit nennt, heimwärts durch die Dämmerung, auf dass er in seinem ins Wanken geratenen Imperium schlafe, bis die Trauer in wecke. Hinfort. Hinfort. Geh und spiel wie ein Kind auf den Gefilden der Ewigkeit, spiel deine Kriegsspiele, mit Gut und Böse, Ordnung und Chaos, richtig und falsch. Und Finsternis und Licht? Die Dunkelheit, so sagen wir, ist nur Materie – Licht, das sich um sich selbst windet, eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt; aber sie ist immer noch Licht. Und das Licht? Licht ist ein Feuer in der Nacht, eine Flamme, die uns wärmt und die Umrissen Gestalt verleihen kann.
Aber still jetzt. Richtig, wir sind noch jung. Du weißt das sehr viel besser als wir, schließlich lebst du ein entzückend wechselhaftes Leben, das aus so vielen kleinen Dingen besteht, die so viel wirklicher sind als all die Höllen und Paradiese, die wir, die Toten, uns im Vellum erträumen, in den stillen Winkeln unserer Köpfe.
Und so wenden wir uns an dich.
»Das ist der Sturm, den die Herzöge wider uns schicken«, sagst du. »Und all ihre Schrecken haben sie losgelassen, nicht nur in ihren Worten, sondern auch in ihren Taten, und sie kommen immer näher.«
Und du scheinst dir deiner Sache so sicher zu sein. Wir nicht. Ebenso könntest du wahnsinnig sein, wie unser ehemaliger Herr behauptet. Aber wir sind tot.
»Ach, aber die heilige Mutter ist die Erde selbst«, sagst du. »Und der Himmel dreht sich über mir, und das Licht der Sonne scheint auf uns alle herab, sie sehen mich, ganz sicher, wie sie alle Ungerechtigkeit sehen, alle Torheit und Grausamkeit, jawohl, ganz bestimmt, darauf könnt ihr euch verlassen, das steht außer Frage.«
Und sogar um deinen Käfig aus Draht und Fleisch beneiden wir dich. Du sagst:
»Ich werde ausharren.«
EPILOG
Endhaven, Dämmerung
Riesen. Vielleicht.
Der Trampelpfad schlängelt sich zwischen Dünen und Klippen hindurch, zwei Furchen einer Karrenspur, die sich vom Landesteg und von Jacks Bude landeinwärts am nordöstlichen Rand der Stadt entlangziehen, am Gelände des Lumpensammlers vorbei. Es gibt auch eine richtige Straße zu seiner Wohnung; sie zweigt von der Hauptstraße ab, die nach Endhaven hineinführt — oder aus der Stadt hinaus. Aber das ist ein längerer Weg als die Abkürzung durch die Dünen, also stapfe ich den Trampelpfad hinauf und bin erleichtert, als der Boden weniger sandig wird. Das steile Riff und die zerklüfteten Landspitzen, der schwarze Felsen und die bewaldeten Hügel im Norden und Süden schützen Endhaven vor den schlimmsten Stürmen des Nordatlantiks. Endhaven: zwei- oder dreihundert pastellfarbene Plastikhäuser, ein Mosaik aus rissigen Betonstraßen und fruchtbaren Schrebergärten mit ertragreichen gentechnisch veränderten Pflanzen. Dort hört man das Meer nur selten, die Luft ist still, eingeschlossen. Vermutlich haben wir deshalb diese Stelle ausgesucht, oder der Lumpensammler hat sie für uns ausgesucht, als er uns hierherführte. Schutz vor dem Wetter, vor den kalten Nächten und dem, was sie mit sich bringen.
Auf dem Hügelkamm, der Endhaven vom Strand trennt, weichen die breiten scharfen Halme des Sandgrases dichterem Gras- und Unkrautbewuchs. Und dort, leuchtend weiß vor dem tristen grauen Himmel, stehen ein paar Windkraftgeneratoren. Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen, und doch steht jeder für sich, wie die Installation eines modernen Künstlers, einsam und verloren.
»Als ich jünger war«, habe ich Jack einmal erzählt, »stellte ich mir vor, die Windmühlen seien riesige Soldaten, die die Stadt ... du weißt schon ... vor der
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