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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Dämmerung beschützten.«
     
    Ich weiß nicht genau, was es mit der Dämmerung auf sich hat. Niemand weiß das. Stell dir einen reißenden Wolkenstrom vor. Stell dir wogende Schatten vor. Stell dir einen grauen Wirbelsturm vor, der sich mit solcher Kraft aufbäumt und direkt auf dich zukommt, dass du nicht mehr unterscheiden kannst, ob die verschwommene Wand aus Regen oder Sand, Asche oder Dampf besteht. Wenn das ein Unwetter ist, dann kommt es aus der Finsternis im Osten herangerollt, jeden Abend, greift aus dem Himmel herab wie die Hand Gottes, um jeden Narren aus der Welt herauszureißen, der vermessen genug ist, sich ihm allein entgegenzustellen. Nun denn, fast jeden. In seiner Einsiedlerkrebsmuschel am Strand lebt Jack direkt in der Nähe der aufziehenden Dämmerung, und jeder hier in Endhaven weiß, dass er hindurchlaufen kann wie ein Engel durch die Flammen der Hölle — unangreifbar. Und der Lumpensammler muss ebenfalls über einen eigenen Schutz verfügen, dort oben auf dem Hügelkamm. Für uns Übrige ist dies die wilde Wirklichkeit, mit der wir zu leben gelernt haben, seit wir auf dem Karren des Lumpensammlers nach Endhaven gekommen sind.
     
    Das erzählen sie mir jedenfalls, diejenigen, die noch mit mir reden. Die meisten versuchen anscheinend zu vergessen, warum und wie wir hier gelandet sind. Sie machen sich vor, dies hier seien nur ihre Ferienhäuser, wir würden bald wieder in die Stadt zurückkehren, zu unserem früheren Leben, zu unseren früheren Identitäten, und nichts hätte sich verändert. Mit diesen kleinen Lügen versuchen wir uns über den wahren Sachverhalt hinwegzutrösten, denke ich.
    »Tom der Verrückte. Wir sollten dich Don Quixote nennen«, hat Jack einmal gesagt, während er mit seitlich geneigtem Kopf die Windmühlen betrachtete.
    Und dann muss er mir unbedingt noch erklären, dass Coyote ein cooler Name wäre, aber schließlich sei ich kein Ureinwohner, und das habe er damit auch überhaupt nicht gemeint.
     
     
    Streiflichter
     
    Ich weiß es nicht, verstehst du? Ich weiß rein gar nichts. Ich weiß nicht, ob wir hier in zivilisierten Verhältnissen leben oder nur so tun. Ich weiß nicht einmal meinen Namen. Ich konnte ihnen nicht sagen, wie ich heiße, also haben sie einen Namen für mich ausgesucht und mich Tom genannt, weil ich wie ein Tom aussah. An die Zeit, bevor wir hierhergekommen sind, kann ich mich kaum noch erinnern, nur ein paar Streiflichter, die keinen Sinn ergeben. Die Welt fiel bereits auseinander, sagen sie, noch bevor ich meinen fünften Geburtstag erreichte.
    Ich meine, ich kann mich daran erinnern, wie ich mit einem kleinen Mädchen in einem Kleid, das zu groß für sie war, Fangen gespielt habe, und wie ich mir wünschte, meine Mutter würde sich wieder wie eine Erwachsene benehmen. Ich weiß noch, wie sie kichernd durch einen Park davonlief, wie ich nach ihr suchte und heulend auf der Schaukel saß. Ich kann mich noch daran erinnern, wie mich ein Onkel gekitzelt hat, und dass er nach Pfeifentabak roch und an das zwitschernde Vogelpfeifen seiner Stimme; ich kann mich noch daran erinnern, wie ich im Zoo Kinder fütterte. All meine Erinnerungen an die Zivilisation sind von einer Welt, die nicht wirklich sein kann.
     
    Also kann ich mich nur auf das verlassen, was Herr Hobbes uns erzählt hat, und er hat immer gesagt, Endhaven sei der Gipfel der Zivilisation. Er hat uns den Gesellschaftsvertrag erklärt und wie er diese Stadt zusammenhält, weil jeder von uns ganz genau weiß, wer er ist, und weil die anderen es wissen, denn wir unterscheiden uns voneinander, dank unseres Status, dank unserer Aufgaben, unserer Bedeutung; alles vertraglich festgelegt. Wenn du sechs bist, ist dir noch nicht klar, dass sie das wörtlich meinen.
    »Manchmal habe ich so getan«, sagte ich einmal zu Jack, »als brauchten wir den Lumpensammler gar nicht; als wären es die Windmühlen, die die Dämmerung von uns fernhielten.«
     
    Aber wo wir auch leben mögen, in unseren Köpfen, in diesen fiktiven Ferienhäusern, in einem Flüchtlingslager am Ende der Welt — wenn die Dämmerung kommt, wird den Leuten immer wieder bewusst, wie gefährdet unser neues Leben ist, wie wörtlich wir diesen Vertrag nehmen müssen und was mit denjenigen geschieht, die ihn brechen. Ein Wort des Lumpensammlers könnte unsere Übereinkunft zunichte machen, und unser Gefühl von Geborgenheit, von Identität wäre ebenso dahin. Von uns weiß niemand, was es mit der Dämmerung eigentlich auf sich hat,

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