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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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es bedeutet.
     
    Im Abzu, dem Abgrund unter der Welt, regen sich machtvolle Kräfte. Ein Flüstern, die Stimmen der Vorfahren vielleicht, der Anunnaki höchstselbst. Sie spürt, wie Laute in ihr emporsteigen, in ihrem Herzen aufschreien, jetzt so mächtig werden, dass sie weiß — sie ist wie er, etwas, das außerhalb der gewöhnlichen Welt seinen Platz hat. Dieser Laut war es, der sie zu ihm geführt hat. Sie lacht.
    Der Mann redet im Schlaf, betrunken. Sie schließt den Mund und die Laute verstummen. Ein rascher Blick zum Eingang des Zelts. Immerhin ist das Enki, der große Gott Enki mit seinen Schicksalstafeln, den wahren Me, auf denen nicht die leeren Rituale der Priester geschrieben stehen, sondern die Wirklichkeit an sich. Wahrlich, ein großer Gott. Ein Arm rutscht ihm über die nackte Brust. Einem Weinschlauch und einem hübschen Mädchen war dieser Gott nicht gewachsen. Sie lächelt und wühlt weiter in seinen Sachen — mit sonderbaren Schriftzeichen bedeckte Lederlappen —, auf der Suche nach seiner geheimen, heiligen Weisheit.
    Sie weiß, nach was sie sucht — nach Schrifttafeln, nach Rollsiegeln aus Ton, wie in der Geschichte des Donnervogels Anzu, der diese einst gestohlen hat —, aber alles, was sie findet, sind Lumpen ...
    Und sie ist klug genug, dass sie, als er sich auf den Bauch rollt und sie das Zeichen sieht, schwarz auf der schwarzen Haut seines Rückens, die Bündel noch einmal genauer in Augenschein nimmt. Ja. Sie kann hören, wie es in der sie umgebenden Welt ruft, diese sonderbaren Laute der ihr zugrunde liegenden Mächte. Sie hört es in den Worten, die der betrunkene Gott im Schlaf murmelt, als ströme ein Fluss aus Stimmen unter seinem Raunen dahin, mal lauter, mal leiser. Laute schwellen an und ab. Sie betrachtet die Zeichen auf den Lederlappen und sieht ... Gestalt gewordene Laute.
    Also ist unser Schicksal nicht auf Ton geschrieben, sondern auf Haut, denkt sie. Tief in Gedanken versunken streicht sie sich über den Arm und fragt sich, ob ihr Plan wirklich klug ist. Vielleicht nicht, denkt sie. Aber er passt so gut zu ihr.
     
    »Inanna«, zischt Phreedom mit zusammengebissenen Zähnen. Sie versucht, sich an einer Identität festzuhalten, entweder an der der mythischen Göttin, die ihr in die Haut gestochen wird, oder an der des jungen Mädchens aus dem neolithischen Dorf, deren wahre Geschichte irgendwo in der Erzählung verborgen ist. Aber es fällt ihr immer schwerer, ihre eigenen Erinnerungen in dem Durcheinander zu erkennen; von der Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart, die ihr anderes Ich – Inanna – ausmacht, ganz zu schweigen. Jetzt verfügt sie über Erinnerungen an eine grasbewachsene Steppe, daran, wie ihr ein Hirtenjunge den Hof macht, daran, wie sie Wasser vom Brunnen holt, wie sie die lilis und die mesi lernt und ihr Lieblingsinstrument, die ala . Sie ist Inanna, die zur Tür eines Gemachs hinausblickt, in dem ein langweiliger Priester sie lehrt, eine brave kleine Prinzessin zu sein. Sie ist Inanna, unterwegs zu einer Stadt in einer Höhle in den Bergen, wo tote Seelen Staub fressen und die Menschen weite schwarze Mäntel tragen, mit Federn wie Geierflügel. Sie ist Phreedom, die zur Tür ihres Hotelzimmers hinausblickt, und sie ist Inanna, die an einem einsamen Berghang steht und durch einen schwarzen Spalt im Fels zurückblickt, ein Riss im Vellum selbst, ein Tor aus der Wirklichkeit hinaus.
    Sie trägt ihrer Dienerin eine Botschaft auf. Wenn ich in drei Tagen nicht wieder hier bin, hol Hilfe.
    Wenn du in die Hölle gehst, ist es eine gute Sache, sich eine Hintertür offen zu halten.
     
     
    Die Beantworter
     
    Im Comfort Inn, Marion.
    Wie eine Flaschenpost, wie ein letzter Eintrag in das Tagebuch eines Forschungsreisenden oder ein Monolog vor laufender Kamera im Keller, während draußen die Bomben fallen, wird die Codelady Phreedoms letzte Botschaft an die wirkliche Welt sein, und Phrees Finger weben sie mit Sorgfalt, führen in ihren Simware-Handschuhen einen Tanz auf, während sie zuschaut, wie der Avatar als virtuelles Abbild Gestalt annimmt. Ein VR-Geist mit weiblichen Formen, eine vorkonfektionierte KI direkt aus den körnigen Speichern der Discountdatenbanken, mit ihrem Stimmprofil ausgestattet, mit einem Oberflächenscan ihrer Körperform überzogen, ihrem nackten Spiegelbild nachempfunden – nackt bis auf den Handschuh, der an den Datenstick angeschlossen ist und der wiederum mit ihren Linsen in Verbindung steht. Im Handschuh tanzen

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