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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Leben erst dreimal gesehen hat: einmal, als Finnan ihr seine Handfläche zeigt und sie einen Blick auf seine Seele werfen ließ; dann, als dieselbe Hand ihr ein Mal auf die Haut gezeichnet hat und sie dieses voller Staunen betrachtete; und schließlich, als sie ihren Bruder in dem Rasthof droben in den Bergen aufspürte, wo er sich versteckte, und er sein Hemd aufknöpfte, um ihr zu zeigen, dass auch er gezeichnet war.
    Sie blättert das Buch mit den Namen toter Götter durch, eine Geschichte der Welt vor dem Anbeginn aller Welten – Anu und Mummu, Ninhursag und Adad, Enlil und Enki, Sin und Dumuzi und ...
    »Inanna«, sagt sie.
    Madame Iris legt ihr eine Hand auf die Schulter.
    »Ja, kleine Schwester.«
     
    Die Nadel tanzt über ihre Haut, durch sie hindurch, und sie spürt sie in ihren Gedanken, in ihren Erinnerungen, während die Form dessen, was sie ist – oder war –, neu erschaffen wird, neu gestaltet, durch eine Linie hier, eine Kurve dort. Ihre Seele ist nasser Ton, eine Tafel in den Händen eines Priesters, der mit spitzem Schilfrohr einen Mythos in Keilschrift hineindrückt. In das weiche Holz sind mit der Messerspitze Runen eingeritzt worden. Die Tierhaut ist mit Ocker bemalt – eine Leinwand, bei Kerzenschein mit Ölfarbe grundiert; nasser Gips in einer Kathedrale, mit grellem Indigopuder und Eiweiß auf dem Pinsel eines Künstlers eingefärbt. Ihre Seele ist eine Geschichte, die in Tinte und Gold neu erzählt wird, in der Illumination eines mittelalterlichen Manuskriptes aus Velin.
    »Deine Seele kannst du nicht verändern, Phreedom«, sagt Madame Iris.
    Aber eben das geschieht gerade, denkt sie. Sie kann es spüren. Sie kann spüren, wie dieses andere Ich sich ihr aufprägt. Sie kann die Verwandlung spüren, es geschieht in diesem Augenblick, an diesem Ort, sie wird etwas anderes, jemand anderes.
    Madame Iris schüttelt den Kopf.
    »Jede Veränderung ist eine Illusion«, sagt sie. »Zeit? Raum? Das sind die Dinge, die du hinter dir lässt. Für das Vellum warst du schon immer Inanna.«
     
     
    Eine leere rituelle Rolle
     
    Aus dem großen Himmel hörte sie es und aus der großen Erde. Aus dem großen Himmel hörte Inanna es und aus der großen Erde. Sie hatte keine Ahnung, was es war, dieses seltsame Geräusch, das den Boden unter ihren Füßen erbeben ließ, aber sie wusste, das es sie fortrief, fort aus dem Dorf und dem Überfluss an Nahrung, den die Steppe zwischen den Flüssen ihnen bot und über den sie verfügten, dem Überfluss an Tongeschirr, das im ganzen Land zwischen den Flüssen berühmt war. Fort von ihrem Vater, dem En, der dafür gesorgt hatte, dass seine kleine Prinzessin die schönste Sugurra aller Dörfer in der Umgebung trug. Fort von ihrem bezaubernden Verlobten Dumuzi. Und fort von ihrem priesterlichen Lehrer mit seiner Liste langweiliger Me, mit seinen Regeln und Normen, Klassifikationen und Systemen, welche die ganze komplexe neolithische Welt in einer ausufernden fadenscheinigen Ordnung zu erfassen suchen.
     
    »Das erste Me ist die unangefochtene Herrschaft«, sagt ihr Lehrer und streicht sich über die langen, geölten Locken seines Barts. »An zweiter Stelle steht natürlich die Göttlichkeit, dann die erhabene und ewige Krone.«
    Sein Vortrag schleppt sich dahin. Der Thron des Königtums, das erhabene Zepter, die herrschaftlichen Insignien, der heilige Schrein. Hirtentum und Königtum.
    »Nimmer endende Macht und Herrlichkeit ist das zehnte Me«, sagt er, »und damit, junge Inanna, solltet Ihr Euch am ausgiebigsten beschäftigen. Das elfte ist das Priesteramt des Nin. Hört Ihr mir zu?«
    »Ja«, sagt sie und blickt an ihm vorbei zur Tür hinaus, fährt selbst in einem gelangweilten, leicht ironischen Singsang mit der Litanei fort. »Die Priesterämter des Ishub, des Lumah, des Gutug. Warum muss ich das lernen?«
    Er schüttelt nur den Kopf.
    »Das fünfzehnte Me ist die Wahrheit«, sagt er. »Das sechzehnte der Abstieg in die Unterwelt.«
    Aber sie lauscht einem Geräusch, das in ebendieser Unterwelt ihren Ursprung hat, und sie weiß, dass der alte Narr es nicht einmal hören kann. Trotz seiner großen Gelehrtheit, seines ganzen Geredes über die Me, hat er nicht die geringste Ahnung von den tiefreichenden Mustern, die der Welt dieses kleinen Dorfes mit seinen bewässerten Feldern und Lehmziegelhäusern, mit den von den Nordländern gekauften Tonwaren und Metallarbeiten zugrunde liegt. Aber sie kann es hören!
    Und sie wird jemanden finden, der ihr erklärt, was

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