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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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sie die Teraphim in den Tempeln verbrannten. Sie erschufen ein Geschöpf aus Ton, setzten ihm eine ungefähre Kopie ihres Mals ein und ließen es für sich sprechen. Voilà, Beantworter.
    Sie lädt ihr Mal in den Langzeitspeicher des Avatars, und einen Moment lang hört er auf mit dem dümmlichen Mienenspiel, dem sinnlosen Gemurmel, dem Zucken und Blinzeln und sieht sie fast so an, als verfüge er über ein eigenes Bewusstsein. Gott in der Maschine, denkt sie. Jede Form von Zauberei, die ein bestimmtes Niveau erreicht hat, ist von Technologie nicht mehr zu unterscheiden.
     
     
    Der Tempel des Herrn Ilil
     
    Als Inanna nach drei Tagen und drei Nächten noch immer nicht zurückgekehrt ist, erhob Ninschubur ein Wehklagen um sie in den Ruinen, schlug die Trommel für sie bei den Zusammenkünften der Unkin und vor den Gotteshäusern. Sie zerkratzte sich die Augen, den Mund, die Schenkel. Sie kleidete sich in das schmutzige härene Gewand der Bettler und ging dann, ganz allein, zum Tempel des Herrn Ilil in Nippur. Sie betrat sein Heiligtum und rief ihn an.
    Schlage die Trommel . Phreedom spürt, wie sich die Geschichte in ihr Leben sticht, ihr eigenes Leben unter der Tinte begraben wird. Vor den Gotteshäusern . Verbissener Stolz und brennende Trauer. Verlorene Unschuld. Sie zerkratzte sich die Augen, den Mund, die Schenkel. Erinnerungen, Wahrnehmungen überschneiden sich, stellen neue Zusammenhänge her, wie in einem dieser Träume, in dem eine andere Version deines Selbst in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort lebt, mit einer völlig anderen Vergangenheit, aber noch immer vage spürt, was du warst, als du einst wach warst, was du wieder sein könntest ... ein Traum von einem anderen Leben, in dem du dir nicht sicher bist, welches Leben wirklich ist und welches der Traum. Sie weiß nicht mehr genau, wie lange sie schon hier ist. Eine Stunde? Einen Tag? Eine Woche?
    So ist es also, wenn man stirbt, denkt sie. Wie eine Straße ohne Wiederkehr. Aber ein kleiner Teil von ihr ist immer noch übrig, ein kleines Stück von Phreedom.
    Eine weitere Erinnerung: Sie zieht den Handschuh aus ihrer Jackentasche, streift ihn über, schließt ihn an den Datenstick an. Knopfhörer, Verstärkeranschluss, Logos scrollen über ihre Linsen – sie ist eingeloggt.
     
    »Enlil«, sagt der Museumsführeravatar. »En bedeutet Herr, lil bedeutet ... nun, für gewöhnlich wird es mit ›Wind‹ oder ›Himmel‹ übersetzt, aber eine ältere Theorie des hoch angesehenen Professors Samuel Hobbsbaum legt nahe, dass es mit dem hethitischen ilil verwandt sein könnte, das wörtlich ›Gott aller Götter‹ bedeutet. Es stammt von derselben semitischen Wurzel ab wie das hebräische Elohim und das arabische Allah. Herr aller Heerscharen scheint also eine recht treffende Übersetzung zu sein.«
    Er lächelt weise und gütig, der Museumsführer, mimt den Fachmann, der seinen ungebildeten Besuchern eine Welt voller Wunder eröffnet; obwohl sein im Singsang vorgetragener Sermon kaum mehr ist als eine dieser alten Bandaufnahmen, die man mit einem Knopf auf einem Display einschalten konnte. Er kann Fragen beantworten, die alten Mythen mit dem Geschick eines Schauspielers ausspinnen und darbieten, reagieren ... aber ihm fällt nicht auf, dass der einzige Besucher auf diesem Rundgang ein flackernder Schatten ist, eine in ein härenes Gewand gekleidete Frau, die unverhohlen weint, noch während er auf den Altar deutet, auf die kunstvollen Lampenhalter, auf die bärtige Statue in dem schwach beleuchteten Modell des innersten Gemachs des uralten Tempels von Enlil, der einst in Nippur stand und nun, wieder aufgebaut, hier in einem virtuellen Sumer steht, in einer Simwelt.
     
    »Wie Zeus oder Jupiter«, sagt der Museumsführer, »wurde Enlil als Vater der Götter angesehen, als Herr des Himmels. Aber — und das verrät uns etwas wirklich Faszinierendes über die sumerische Gesellschaft — da die politischen Auseinandersetzungen im Himmel für die Alten nur eine Spiegelung der politischen Auseinandersetzungen auf der Erde waren ... nun, im Unterschied zu den griechischen und römischen Göttern war Enlils Macht nicht uneingeschränkt.«
    Lady Cypher schlendert zu den Statuen hinüber, schenkt dem Museumsführer keinerlei Beachtung, doch er folgt ihr trotzdem, plappert einfach weiter, als sei sie nur eine Touristin wie alle anderen und von seinen Geschichten bezaubert, und so tritt sie vor die starr blickenden Augen und den langen gelockten Bart aus

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