Vellum: Roman (German Edition)
ihre Finger und in den Linsen tanzt das Abbild – ein Trugbild, das vor ihr in die Luft projiziert wird. Ganz Raster und Textur, dreht es sich, Einzelheit um Einzelheit, Schicht um Schicht, von außen nach innen und von innen nach außen erschaffen, vielgestaltiges falsches Fleisch, eine lebensgroße Kopie ihrer selbst. ›Lady Cypher‹ nennt sie ihren elektronischen Golem, diesen virtuellen Homunkulus. Jede Form von Technologie, die ein bestimmtes Niveau erreicht hat, denkt sie spöttisch, ist von Zauberei nicht mehr zu unterscheiden. Eine alte Redensart, die sie irgendwo gehört hat.
Sie umgeht die eingebaute Persönlichkeitsengine. Schließlich ist das kein lahmer, billiger Beantworter, der immer nur lächelt, Phreedom ist im Moment nicht zu erreichen, kann ich etwas ausrichten? Scheiß auf diesen Mist. Über echte Unabhängigkeit wird er nicht verfügen, aber das gestohlene PR-Modul, das sie hineinhackt, ist erstklassig – eins von den Dingern, die der Geschäftsführer eines großen bösen Konzerns verwendet, um mit den unangenehmen Fragen über vergiftete Flüsse und die plötzliche Häufung von Krankheiten fertig zu werden. Mit KIs kann man heutzutage eine Menge anstellen, wenn man über das nötige Kleingeld verfügt ... oder wenn man zehn Jahre lang seiner durchgeknallten Hackermutter dabei zugeschaut hat, wie sie im Dienst der verlorenen Sache kommerzielle Netzwelten verschandelt. Phreedom könnte vermutlich einen Avatar erschaffen, der, wenn er für das Präsidentenamt kandidierte, die Wahl verlieren würde, weil er zu menschlich wirkt.
Aber so etwas Komplexes muss das hier nicht tun. Es muss nur um sie weinen, weil sie dazu selbst nicht in der Lage ist.
Phreedom klinkt sich in die Netzwelt des Museo Nacional Antropologia in Mexico City ein. Sie überprüft, ob der Zugang, in den sie sich eingehackt hat, noch immer mit dem Tempelsim in Verbindung steht, und bereitet den Upload-Assistenten vor. Ein Führungsmenü scrollt über ihre Linsen: Die Cheopspyramiden, Teotihuacán, der Parthenon, Enlils Ziggurat. VR-Tourismus ist heutzutage eine bedeutende Branche – und viel billiger, als selbst auf Reisen zu gehen. Man kann Gegenden besuchen, die es seit Jahrtausenden nicht mehr gibt!
Der Avatar baut sich auf, sein Gesicht verzerrt sich, er stammelt irren Kauderwelsch, quiekst und quasselt wie ein schwachsinniges Kind im Schnellvorlauf, durchläuft die linguistischen Algorithmen, Generationen von Phonemen, die sich allmählich zu Sprachlauten entwickeln, aus Morphemen werden Wörter und – als sich der Chomskyknoten zuschaltet – aus Wörtern Grammatik. Nichts ergibt einen Sinn, selbst als der Avatar von Zungenlauten zu verständlichen Silben übergeht, wahllose Wortverbindungen in verschiedenen Sprachen ausstößt, zusammengeschusterter Unsinn, der nur der Übung dient. De lieuw zit in de bus. Où est le loup-garou? Aber um zu künstlicher Intelligenz zu gelangen, heißt es, muss man erst künstliche Idiotie durchlaufen.
» Qué pasa? «, sagt der Avatar. »Ich bin hier. Perdón; no entiendo .«
Mann, installiert sich dieses Zeug schnell, denkt Phreedom. Sie taucht wieder in die Sim ein, schaltet das Installationsinterface mit einem Fingerschnippen auf lautlos, ruft das Zusatzmodul der Designbibliothek auf, das sie aus der Raubkopie einer CAD-Software herausgelöst hat – so etwas wie ein Archiv geometrischer Formen mit mathematischen Gestaltungstools, die man an einen Beantworter anschließt, wenn man ein Architekturbüro betreibt, dessen persönlicher Assistent ebenso schnell wie genau technische Einzelheiten mit Kunden und Bauunternehmen abgleichen muss. Allerdings verfügt diese Bibliothek, zusätzlich zu all den Kuppeln und Voluten und elliptischen Grundrissen, über eine ganz besondere kleine Vorlage, die sie selbst programmiert hat.
Das Gesicht des Avatars grummelt sich jetzt durch die wesentlichen Gefühle – das affektive Reaktionsmodul generiert sein Repertoire an Freude, Abscheu, Wut, Überraschung, Angst und Traurigkeit. Sie betrachtet das schwarze Zeichen, das vor ihr in der Luft schwebt. Es ist keine ganz genaue Nachbildung ihres Mals, aber es ist ihm ähnlich genug, sodass sie dem Avatar, der den Anschein erweckt, sie selbst zu sein, ein kleines Stück ihrer Seele einprägen kann. Soviel sie weiß, haben sie dergleichen früher mit Statuen gemacht, damals, bevor die Unkin sich zu ihrem netten kleinen Bund zusammenschlossen und den Götzen ein Ende machten, bevor
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