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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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eingeschränkt haben, aber ich habe das ›Buch‹, das mich überhaupt erst hierher geführt hat, und seine Karten zeigen Städte entlang dem Großen Graben – weit im Westen und Osten, Tausende von Meilen hügelauf oder hügelab –, die den Bewohnern dieser Gegend vollkommen unbekannt sein müssen. Ich kann erkennen, dass manche weit größer sind als die Städte, in denen ich bisher war; weiter unten, tiefer im Großen Graben, gibt es Gesimse, die zumindest auf den Karten des ›Buches‹ so aussehen, als seien sie viele Meilen breit.
     
    Die Sonne ist fast untergegangen. Bei einem Winkel von 240 Grad versinkt sie fast unter dem lodernden Schleier der Wolken, zwischen den Apfelbäumen eines Obstgartens und neben einem Gebäude aus rotem Backstein mit einem Turm und einem niedrigen weißen Holzzaun, der am Abgrund errichtet wurde. Und dahinter? Hinter jenem Felsvorsprung einige Meilen weiter unten ist das Sonnenlicht einfach zu grell, um irgendetwas zu erkennen, und die noch weiter entfernt liegenden Terrassen sind nur noch verschwommene impressionistische Farbtupfer. Wunderschön.
    Ich überlege, ob ich aufbleiben und den Sonnenaufgang beobachten soll – die Nächte sind kurz, lange wird es nicht dauern –, aber ich muss plötzlich gähnen und beschließe, dass es Zeit ist, mich zur Ruhe zu legen. Morgen möchte ich meinen ersten Testflug mit Flügeln unternehmen und ich bin nicht mehr so jung wie einst – ich sollte gut vorbereitet sein.

4
Schicksalhafte Prägungen
    Deine Schwester ...
    Inanna, zürnende Kriegsgöttin, deren Tanz die Krieger beider Seiten zum Kampf aufstachelt. Inanna, löwenköpfiger Donnervogel der Frühlingsschauer — der Regengüsse, deren die Schafsweiden bedürfen. Ninana, Herrin der Dattelbüschel, die ihren Geliebten Dumuzi Amauschumgalana am Tor zur Vorratskammer empfing, während die Ernte eingebracht wurde. Inanna, Ninnina, Beschützerin der Huren, Frau Eule. Kaum war Inanna nach Kur hinabgestiegen, hieß es, dass keine Kuh mehr von einem Stier gefickt wurde, keine Stute mehr von einem Hengst, kein Mädchen mehr von einem jungen Mann auf der Straße. Der junge Mann schlief in seinem eigenen Gemach, das Mädchen schlief in Gesellschaft ihrer Freundinnen, heißt es in den alten Mythen. Inanna, Göttin des Abendsterns, Göttin des Morgensterns, Herrin des Himmels, Diebin der Schicksalstafeln. Entschlossene, ehrgeizige Inanna. Das kleine Mädchen, das die Welt gestohlen hat.
    »Ich werde auf die andere Seite hinüberwechseln«, sagt Phreedom.
    »Du bist bereits dort«, sagt Madam Iris, jetzt ohne Akzent, und lüftet den Schleier. Zum Vorschein kommt das Gesicht, das Phreedom im Spiegel sieht. Die Frau sieht nicht älter aus als sie selbst, aber Phreedom weiß nicht, ob das überhaupt von Bedeutung ist. Sie fragt sich noch immer, ob sie ihre Zukunft vor Augen hat, denn sie weiß: ihre Vergangenheit hat sie nicht vor Augen. Vielleicht ist das möglich. Die Unkin sind nicht so sehr der Zeit verhaftet wie alle anderen. Man muss wirklich begabt – oder verzweifelt – sein, um sich so von allem lösen zu können wie ihr Bruder, aber vielleicht steht Phreedom dasselbe bevor.
    »Du bist ...«
    »Nein«, sagt Iris. »Ich weiß, was du denkst, aber du irrst dich. Ich bin nicht dein anderes Ich, zwanzig Sekunden später; ich bin kein weiteres Ich, das einen Schritt neben dir existiert. So einfach ist das nicht mit der Zeit. Die Zeit im Vellum birgt so manches Rätsel.«
    Vor und zurück. Nach links und nach rechts. Auch ein ... auf und ab gibt es, das weiß Phreedom: unter ihren Füßen tote Welten und über ihr Leere – oder dahinter und darin vielleicht – und aus alledem besteht das Vellum. Also ist diese Frau nicht ihre Zukunft oder eine Version aus einem parallelen Zeitverlauf ...
    »Wer bist du dann«, fragt Phreedom.
    Eresch, Eris, Iris von der großen Erde, Herrin der Unterwelt. Ebenso wie die Alten ihre Himmel weit über das sichtbare Himmelsgewölbe gespannt hatten, hatten sie ihre Hölle tief unter der ihnen bekannten Welt vergraben. Dort im Staub lebten diejenigen wie Bettler, die keine Söhne hatten, um ihnen Opfergaben darzubringen, sondern nur kleine Kinder, die — verloren und geliebt — mit goldenem Spielzeug spielten, Geschenke ihrer trauernden Eltern. Ein assyrischer Prinz, der in einer Vision einst der Hölle einen Besuch abstattete, beschrieb die Dämonen, die innerhalb der Mauern der finsteren Stadt der Toten hausten, und Ereschkigal, die über all das

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