Vellum: Roman (German Edition)
herrschte: eine Frau im Trauerkleid, die sich mit ihren Fingernägeln die Wangen zerkratzte, an ihren Haaren zerrte und auf ewig um alle Toten weinte. Nie hatte sie wie andere junge Mädchen gespielt, ihr ganzes freudloses Leben lang; für ihre Rolle auserkoren, hatte sie in ihrer Kindheit nur Klagelieder gesungen.
»Sagen wir, ich bin deine Schwester oder so etwas Ähnliches. Spielt das eine Rolle? Spielt es wirklich eine Rolle, ob ich dein anderes Ich zweiten Grades bin, oder ... einerlei. Du willst zur anderen Seite durchbrechen? Stell dir vor, ich wäre dein ... Fuß in der Tür. Ich bin ein Teil von dir, das schon. Aber dann bin ich auch ein Teil von vielen anderen Leuten.«
Madame Iris lässt den Schleier wieder über ihr Gesicht fallen, aber ihren Akzent hat sie abgestreift und ihre Worte klingen aufrichtig.
»Gut«, sagt Phreedom. »Dann wirst du mir helfen.«
Ockerbemalte Tierhaut
Die Nadel summt, heult an ihrer Schulter, wird hier und da leiser, ein ekelerregendes Geräusch, als würde sie Knochen aufbohren. Phreedom wird ein wenig übel, obwohl das natürlich nicht ihre erste Tätowierung ist. Der Schmerz – der körperliche Schmerz – ist unverkennbar und fremdartig zugleich, die Nadel bewegt sich so schnell, dass sie die einzelnen Stiche gar nicht spürt, nur den Druck und das Zwicken – eine heftige, aber unbestimmte Anhäufung von Empfindungen, die über ihre Schulter wandern, über ihre Haut und unter sie, und ein feuchtes Kitzeln, mal warm, mal kalt. Iris legt die Nadel weg, betupft die wunde Fläche mit einem sterilen weißen Wattebausch, und das geschwärzte Rot der mit Blut vermischten Tinte nimmt einen tiefen Purpurton an, verschmiert und verschmutzt. Sie wirft den Tupfer in eine Stahlschale, die auf der Theke hinter ihr steht. Dampf steigt daraus empor.
In den Flaschen auf der Theke wirbelt die schwarze Tinte, flimmert und fluoresziert. Nanotech, denkt sie. Sie hat gehört, dass die Engel diesen Hightechmist inzwischen für ihre Prägungen verwenden. Warum sollte die andere Seite auch der Zeit hinterher sein? Andererseits könnte es sich auch um gute alte Zauberei handeln.
Wieder berührt die Nadel ihre Haut. Der Schmerz – der körperliche Schmerz – ist nichts, nur eine weitere Schwelle, über die sie treten muss.
»Dir ist klar, dass das bereits vorhandene Mal dadurch nicht entfernt, sondern nur überschrieben wird?«, sagt Madame Iris. »Im Grunde deines Herzens wirst du noch immer das kleine Mädchen sein, das zu viel weiß, das die Macht des Himmels in den Händen gehalten und sie aufs Spiel gesetzt hat, um ihrem Bruder in die Unterwelt zu folgen. Du kannst deinem Schicksal nicht entfliehen.«
»Schicksal?«, fragt Phreedom. Sie wendet den Kopf und schaut ihre Doppelgängerin trotzig an. »Ich glaube nicht an ein Schicksal. Alles kann verändert werden.«
»Richtig. Aber im Vellum wirst du lernen, dass Dinge bleiben, was sie sind, je mehr sie sich verändern ... unter der Oberfläche.«
Und die Nadel sticht ihr in die Haut, prägt ein neues Mal über das alte, auch wenn dieses Zeichen, mag es für sie auch neu sein, natürlich älter als die Welt selbst ist und aus einem Buch stammt, das geschrieben wurde, bevor es Geschichte überhaupt gab.
Phreedom zuckt zusammen, unwillkürlich von Zweifeln gepackt. Den Teil von ihr, den sie loswerden möchte, kann der Schmerz – der körperliche Schmerz – nicht wegbrennen. Aber vielleicht kann er ihr dabei helfen, den Teil von ihr zu finden, den sie verloren hat. Die Zeit flackert, die Nadel summt und ...
Das Buch liegt offen vor ihr auf der Theke, ein Ringbuch mit Hochglanzbildern, die aussehen wie Photokopien uralter Dokumente, von einem Historiker rekonstruiert. Das sind sie letztendlich auch, Vorlagen von Prägungen der Unkin, die lange schon tot sind; die geheimen Namen, die sie einst trugen, das siebenfache Selbst, das sie einst waren – ihnen eingebrannt, als sie zum ersten Mal den Fluss jener Mächte berührten, der durch Wirklichkeit und Vellum strömt, als sie sich zum ersten Mal der Welt bewusst wurden und ihrer Rolle darin. Kurven und Spiralen, Punkte und Kreise: eine Schrift, die aussieht wie grafische Darstellungen subatomarer Teilchen, die miteinander kollidieren – präzise, klare, scharf umrissene Beschreibungen der Seelen ihrer Besitzer, im Cant geschrieben.
Phreedom blättert die Seiten durch, sie erkennt sämtliche Zeichen und Siegel, obwohl sie solche Schriftzeichen in ihrem
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