Vellum: Roman (German Edition)
und Gebote seines Herrn für die Ewigkeit festhielt. Die anderen Unkin hatten es alle so eilig gehabt, in die Rolle von Kriegern, Helden und Königen zu schlüpfen und ihre Herrschaft über den Himmel unter Beweis zu stellen, indem sie Stürme herabriefen.
Blitz und Donner, denkt er. Falken und Adler. In früheren Zeiten konnte man keine hundert Meilen weit gehen, ohne auf einen selbsternannten Gott aller Himmel zu stoßen, auf einen Gott der Luft und der Grazie, der Lüfte und der Grazien. Für diese Götter war die Zivilisation eine Möglichkeit, möglichst weit von dem Dreck wegzukommen, in dem sie geboren worden waren. Für Enki, Kunstwerker und Technologe, Vater der Bewässerung und der Landwirtschaft, bestand Zivilisation jedoch gerade aus Schmutz. Mathematik und Schrift hatten ihren Ursprung in Zeichen, die in nassen Ton gedrückt wurden. Selbst heute, als Metatron, trotz der viertausend Jahre, die seit seinem früheren Leben vergangen sind, findet der Schreiber in ihm noch immer daran Gefallen, etwas in den Händen zu halten.
Er runzelt die Stirn.
Die Tafeln des Schicksals
Das flimmernde Display des Palmtops steht plötzlich still, zeigt Schnörkel und Arabesken – Piktogramme, die nicht Dinge, sondern Kräfte darstellen, Vektoren, das Vorschnellen einer Schlangenzunge, die Anspannung der Schultermuskeln eines Löwen kurz vor dem Sprung, alles in Reihen und Spalten tabellarisiert wie das Geduldspiel eines Kindes, das auf den Stift wartet, der die vorwärts und rückwärts, auf dem Kopf und diagonal niedergeschriebenen Wörter ausfindig macht und umkringelt. Tatsächlich liest Metatron sie in jeder Richtung, diese Seite Text, von links nach rechts wie im Englischen, von rechts nach links wie im Hebräischen, von oben nach unten wie im Chinesischen, und sich spiralenförmig einwärts windend wie im Sumerischen seiner Jugend. Die arattanische Schrift kann sogar diagonal gelesen werden, von der linken unteren Ecke zur oberen rechten oder von rechts nach links. Aber das hier ist nicht der ursprüngliche Text. Und ganz gleich in welcher Richtung er ihn liest, er ergibt keinen Sinn.
Er kann den Schmerz des Mädchens riechen, er ist allgegenwärtig. Er kann spüren, wie sich die Unterschrift des Jungen durch die dicken Seiten des Gästebuchs hindurchbrennt. Der Palmtop sollte all dies aufschnappen können, den Augenblick vermessen, die ihm innewohnenden Strömungen einfangen wie Scharfgarbenstiele, die zu Hexagrammen zerfallen. Stattdessen ist im Text keine Spur von ihnen zu finden. Vor zwei Wochen noch war die Fährte nur allzu deutlich – so deutlich, dass er die beiden Werber zu sich gerufen hat, um sie stundenlang zu befragen, an was genau sie sich erinnerten. Der Junge war tot? Das Mädchen so gut wie? Waren sie sich sicher?
»Das ist das Einzige, was sicher ist«, hatte er gesagt und ihnen das Buch unter die Nase gehalten.
Jetzt betrachtet er den Bildschirm und runzelt die Stirn. Die Vorsehung verändert sich nicht.
Der Sprache liegt eine agglutinierende Grammatik zugrunde, die die Wörter auf ihren Stamm reduziert. Sie benötigt all die kurzen Verbindungswörter des Englischen nicht, all die ›von‹ und ›zu‹ und ›für‹ und ›bei‹. Sie benötigt das ganze grammatikalische Außenskelett der lateinischen Vorsilben und Nachsilben nicht. Alles ist nur eine Frage der Wortfolge – eines nach dem anderen und so fort. Doch der Text auf dem Bildschirm ist weniger eine lineare Aussage als vielmehr ein Lageplan aller möglichen Bedeutungen. Er muss nicht in eine bestimmte Richtung gelesen werden, Zeile für Zeile, ebenso wenig wie man ein Gemälde verstehen könnte, schnitte man es in Streifen und ließe man den Blick über ebendiese Streifen schweifen, als könne man jeden einzelnen Pinselstrich für sich deuten, einen nach dem anderen, in der Erwartung, einen Sinn darin zu finden.
Welche Gestalt sie auch annehmen, ein in Leder gebundenes Buch des Lebens, Tontafeln des Schicksals oder in Stein gemeißelte Gesetze – in welches Medium die Me von Natur aus auch verschlüsselt sein mögen, es muss strukturell einigermaßen komplex sein, um die schiere Bedeutungsdichte der Sprache der Unkin aufnehmen zu können. Jede Aussage birgt ihre Zusammenhänge in den Abständen zwischen den Wörtern. Aber im Cant, der dem Bildschirm aufgeprägt ist, gibt es keine Zwischenräume, und die Bedeutung breitet sich vom zentralen Schriftzeichen nach außen hin aus, umkreist es und
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