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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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versuchen, dich in einen ihrer wahnwitzigen Pläne mit reinzuziehen, irgendein Reich zu schaffen. Und natürlich, wenn du nicht auf ihrer Seite bist, bist du gegen sie, ganz klar. Hör auf mich und halt dich von ihnen fern.«
     
    »Weißt du«, hatte sie zu ihm gesagt, »nichts von dem, was du mir erzählst, passt zusammen. Scheiße, Finnan, kannst du nicht einmal versuchen, dir schlüssigen Bockmist auszudenken?«
    Thomas hatte gelacht, in kindischer Überheblichkeit, wie sie nur ein großer Bruder zustande bringt.
    »Schlüssig«, hatte er gesagt. »Scheiß auf schlüssig.«
    »Es geht nicht um Schlüssigkeit«, hatte Finnan gesagt. »Wenn es um den Cant geht, spielt Logik keine Rolle. Man kann nicht die ganze Geschichte, die vollständige Geschichte erzählen und dabei hoffen, sich nicht in Widersprüche zu verwickeln. Man kann bestenfalls hoffen, ... einigermaßen zusammenhängend und umfassend zu sein. Und wenn es um die verfluchten Unkin geht, sollte man sich darum wahrscheinlich auch nicht allzu viele Gedanken machen. Vertrau mir: Wenn sie der Meinung wären, du hättest rausbekommen, worum es wirklich geht – als ginge es wirklich um etwas –, dann würden sie wie die Scheißraben auf einem Schlachtfeld über dich herfallen. Denn das ist es, worauf sie aus sind. Eine nette, klare Antwort auf alle Fragen.«
    »Und du glaubst, die gibt es nicht?«, hatte sie wissen wollen.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Nicht einmal im Buch steht eine, soweit ich gehört habe.«
    »In welchem Buch?«
    »Im Ewigen Stundenbuch.«
    »Was ist das – das ›Ewige Stundenbuch‹?«
    »Ah«, sagte Finnan, »das ist wieder eine ganz andere Geschichte.«
     
     
    Ein schwarzer, blutiger Ärmel
     
    Geboren wurde sie als Ninanna Belil, in den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts v. Chr., Tochter eines neolithischen Dorfältesten und seiner Frau — einer Priesterin, deren Kosmologie mit dem Aufkommen neuer Ideen in sich zusammenfiel, irgendwo zwischen Euphrat und Tigris. Aufgewachsen war sie mit Ackerbau und Fischerei, mit Keramiktöpfen und Getreide für alle und jeden, mit Mathematik und Schrift und Männern mit Sicheln, die die Ernte einbrachten, die ganze sumerische Revolutionsgeschichte. Sie hat mit dem Hirtenjungen Dumuzi geflirtet, ihn gebeten, von Enki in seinem Abzu tief unter der Erde zu singen, und diese Bitte sprach sie mit einer solch verträumten Leidenschaftlichkeit aus, dass er innehielt, sie ansah und sie fragte, wo sie mit den Gedanken sei und was sie denke.
     
    »Wer bin ich?«, fragt das Mädchen, das einst Phreedom hieß. Die Tätowierung bedeckt inzwischen den größten Teil ihres Armes wie ein schwarzer, blutiger Ärmel, als hätte sie ihren Arm tief in etwas Riesigem und Abscheulichem versenkt, um nach einem Herz zu greifen, wie eine Kriegerin oder eine Chirurgin. Irgendwo in dem verschlungenen Wirrwarr der Tinte, die ihre Haut mit einem Netz überzieht, in den umherwirbelnden Chiffren des Gedächtnisses und der Identität einer anderen Person hat sie jedes Zeitgefühl verloren. Iris spricht mit ihr, aber Phreedom kann ihre Worte nicht hören. Inanna dagegen hört sie. Inanna lauscht nun mit Phreedoms Ohren, sie nickt und antwortet, aber das Mädchen, das einst Phreedom war, ist jetzt taub und stumm, irgendwo tief in sich selbst gefangen.
    Was von ihr übrig ist, begreift, dass das vielleicht keine so gute Idee war.
    Geboren wurde sie als Inanna, Herrin des Himmels, Priesterin der Erde, in den letzten Jahren der zwanzigsten Welt, Tochter eines Mondgottes und der Mutter Erde, deren Geschichten bei der Geburt neuer Mythologien verloren gingen, irgendwo zwischen nie und jetzt. Aufgewachsen ist sie mit Schicksal und Vorsehung, mit gewaltigen Helden und vorbestimmten Rollen, mit Geschichte und Gesetz und mit ockerfarben geschminkten Göttern, welche die Leichname ihrer titanischen Vorfahren aus dem Chaos herauszerrten, mit der ganzen unterbewussten Schöpfungsgeschichte. Mit Enki, dem alten Gott der Weisheit, hat sie getrunken, sie hat ihm zugehört, wenn er mit einer Welt der Gewissheiten prahlte, die er für sie alle schuf — von einem Land träumte er, von Raum und Zeit, die wohl geordnet waren. Und als er, sinnlos betrunken, bewusstlos niedersank, nahm sie sein Me, die Pläne seines großen Traums, die Prägungen der Vorsehung, und stahl sich in die Nacht hinaus.
    »Verwegenheit«, sagt Madame Iris. »Wenn es ein Wort gibt, kleine Schwester, das Inanna beschreibt, dann ist es Verwegenheit. Die erste

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