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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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bewusst, woher sein unterschwelliges Unbehagen rührt. Er begreift nicht, dass das Spiel mit dem Feuer nur ein Versuch war, diesem Gefühl der Verletztheit, der Kränkung und Übelkeit Ausdruck zu verleihen – diesem Gefühl, das immer zurückbleibt, nachdem ein geflüstertes Wort Metatrons seinen Kopf von allen Erinnerungen an die Gräueltaten, die er begangen hat, gesäubert hat. Er kann sich nicht daran erinnern, wie er voller Entsetzen auf das Mädchen hinunterblickte, das da in einer Lache schwarzen Ichors lag, wie seine Hände zitterten bei dem Gedanken, was sie getan hatten. Er weiß nicht mehr, wie er unwillkürlich seine eigenen blauen Augen, seine eigenen blonden Haare in denen jenes Feiglings erkannte, während er ihm wieder und wieder ins Gesicht schlug, als versuchte er, sein eigenes Spiegelbild zu zerschmettern. Er kann sich nicht daran erinnern, wie er das Zippo in die Hand nahm, in der leisen Hoffnung, dass der Junge es durch den schimmernden Zauber hindurch, den Metatron über sie gelegt hatte, erkennen würde – dass er wissen würde, wem es gehörte, und dass er fliehen musste. Nein, wie tief die Wunde in seiner Seele auch sein mochte, Metatron hat sie gründlich gesäubert. Und noch immer hallt der Cant in seinem Kopf wider, die Säuberung geht noch immer weiter, langsam, methodisch. Aber eben nicht vollkommen.
     
    Pechorin hält seine Hand fest und schaut nach, wie ernsthaft die Verletzung ist, doch Carter starrt nur sein Spiegelbild im silbrigen Stahl des Feuerzeugs an. Er versucht zu begreifen, was er empfindet, warum er verdammt nochmal nicht das fühlt, was er fühlen sollte. Pechorin lässt den Motor an, schert aus der Parklücke aus und ordnet sich in den Verkehr ein. Hinter ihnen, mit einigem Abstand, folgen die anderen fünf in einem nicht gekennzeichneten Lieferwagen, den er im Rückspiegel sehen kann. Sie lachen und einer von ihnen öffnet eine Dose Bier, während sie sanft in die bedeutungslose und formbare Rolle zurückschlüpfen, die sie in ihrem Alltag einnehmen, bis sie das nächste Mal gerufen werden. Carter lehnt sich auf dem Sitz zurück und schließt die Augen, die Sonne dringt durch seine Augenlider, ein roter und orangefarbener Fleck, von Punkten und Adern durchzogen, eine abstrakte Leinwand aus Blut und Flammen.
    Er kann die Augen des Jungen nicht vergessen, ein tiefes Haselnussbraun mit grünen Tupfen – Smaragd und Jade; er kann nicht vergessen, wie sein Blick in der Bar immer wieder zu ihm zurückkehrte, wie er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, wie er ihm die Zigarette anzündete, seine Stupsnase, die schulterlangen rotbraunen Haare.
    »Du siehst beschissen aus«, sagt Joey.
    Jack schaut ihn an, wie er da in seiner schwarzen Lederjacke sitzt. Aus irgendeinem Grund – Gott weiß, warum – stellt er sich vor, wie er in einem Anzug aussähe. Verdammt, Joey würde nicht mal dann einen Anzug anziehen, wenn man ihn dafür bezahlte.
    »Ich fühle mich auch beschissen«, sagt Jack.
     
     
    Der Fluss der Krähen und Könige
     
    Der Fluss war angeschwollen vom Morast des Krieges, von all dem Blut und den Leichen nach dem Sturm — noch dickflüssiger als der Teer, dem er ähnlich war; und von ihm mitgerissen wurden zerfetzte Kleidungsstücke und geborstene Möbel; offene Koffer und verstreute, durchweichte Papiere; irgendwelche unbekannten Kunstwerke, in fest zugeknoteten Plastiktüten oder in ölige Lumpen gewickelt; Puppen und Teddybären; gerahmte Ölgemälde und Schwarzweißfotografien von Gattinnen und Geliebten; Vaters Armbanduhr und Großvaters Standuhr; Konzertflügel und Dreiräder; Spielkarten mit nackten Mädchen darauf; Tontöpfe aus Hacilar, Hassuna oder Samarra mit Fischen und Vögeln, Tieren und Menschen gemustert; sämtliche Stierköpfe, Doppeläxte und Malteserkreuze von Tell Halaf; und die mit Ton bedeckten Schädel der Toten, mit Muscheln statt Augen bestattet, der Ursprung aller Töpferei im protoneolithischen Jericho. Die ganzen Kunstwerke, die sich im Laufe der Geschichte angesammelt hatten, wirbelten durch den strudelnden Schlamm. Und unter diesen Dingen, von ihnen hinweggetragen und von ihnen hinabgedrückt, hilflos dem Wasser ausgeliefert, befanden sich auch die Toten, schaukelten den Fluss entlang, der einst klar und süß durch die ganze Ewigkeit strömte, einer fernen Stadt am Rande der Wirklichkeit entgegen. Und der Fluss der Stimmen und Visionen, der einst funkelnd, tosend und murmelnd in die Tiefe hinabrauschte — der Fluss des

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