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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Lebens und der Fluss der Toten, den alle überquerten, die aus der Zeit und dem Raum ihres Daseins in die Ewigkeit hinüber wollten — war eine träge Schlange aus Schmutz geworden, wo Krähen sich an den Leichnamen von Königen gütlich taten.
     
    Und Thomas stolpert, als er versucht, über eine freiliegende Baumwurzel zu springen, knallt auf die Knie, die Hände ausgestreckt, platscht in den Matsch und fällt vornüber, verrenkt sich das Handgelenk und heult auf, verflucht sich, dass er so viel Lärm macht. Nicht weit hinter ihm — nicht weit genug hinter ihm — werden wilde Schreie laut, trunken vor gemeiner Freude, und sie kommen durch Unterholz und Gebüsch und Gras auf ihn zugestürzt. Er taumelt aus dem Graben triefenden Sumpfes und rennt. Er rennt aus dem Wald hinaus, rennt vor den Krauts davon, vor den Schlägern, vor den Höllenhunden, vor den Engeln, vor dem Löwen und vor dem Unheil bringenden Donner und dem Blitz, der neben ihm in einen Baum kracht: ein hoher Baum, von einem unheimlichen, geisterhaften Licht erleuchtet. Er rennt aus dem Wald hinaus und über ein Feld — hohes Gras schlägt ihm ins Gesicht — und wieder in einen Wald hinein, rutscht einen Abhang hinunter und stürzt mit lautem Platschen in einen tosenden Fluss, das Wasser schwarz, braun und rot von der ganzen Erde, die das Unwetter hineingespült hat, und kopfüber reißt es ihn in die Tiefe hinab, dem Tod durch Ertrinken entgegen.
     
    Es ist ein trockener, heißer Tag in der Savanne — die Sonne nimmt der Welt jede Farbe — und ein Löwe schleicht langsam durch das hohe Gras. Einem schlanken Bock zucken die Nüstern, als er die Witterung des Raubtiers aufnimmt, und er blickt uns an, blinzelt mit langen Wimpern über tiefschwarzen Augen. Engel kreisen träge am Himmel. Wir schauen uns um und sehen eine Herde Auerochsen, die unter freiem Himmel weidet, und — wie gespenstische Umrisse über diese Vision von einer Steppe gelegt — junge Männer in Olivgrün und Khaki, die Zigaretten rauchen oder Karten spielen und trinken. Ein Hund hat sich neben (hinter?) einer seltsamen Gestalt zusammengerollt, die in Tierhaut gekleidet ist, eine Schnabelmaske trägt und etwas, das wie ein gefiederter Umhang oder Flügel aussieht. Alles steht still, wie gebannt.
     
    Und obwohl wir wissen, dass dann, wenn dieser Augenblick vorbei ist, ohne den Schatten eines Zweifels — denn in diesem unerbittlichen Sommer gibt es keinen Schatten oder zumindest nur ausgesprochen spärlichen unter den dahintrottenden Füßen —, obwohl wir wissen, dass ein Verhängnis droht, das diesen Frieden zunichte machen wird — denn das ist der Lauf der Welt, des Daseins, jetzt und immerdar —, wissen wir auch, dass Tammuz irgendwo, irgendwann entkommt. Und trotzdem weinen wir um ihn; wir weinen um den vergessenen Gott von Sumer wie wir um unsere verlorenen Sommertage weinen.
    Und noch immer rennt er, läuft er, springt er, in einem fort, im Augenblick gefangen und im Mythos entfesselt, durch die Felder der Vergessenen Tage, weit weg von der Straße des Ewigen Staubs, den Fluss der Krähen und Könige entlang, und überall um ihn herum treiben die Knospen und Binsen, wächst das Gras und die Büsche und Bäume und der Mohn.

Errata

 
     
    Die Strazza Ce La Daedalii
     
    Ich trete aus der Herberge in das spätmorgendliche Licht der Strazza Ce La Daedalii – ein Name, den ich mir selbst ausgedacht habe, schamlos aus Morphemen von drei oder vier verschiedenen Sprachen zusammengeschustert, die ich auf meinen Reisen gelernt habe. Ich habe sie mit diesem erfundenen Ausdruck bedacht, weil er mir anschaulich erscheint und mich angenehm an das Lateinische erinnert, mit einer fließenden Sprachmelodie, wie sie einer Zivilisation angemessen ist, die sich mit so zahlreichen Wasserfällen umgab. Ich trete auf die Marmorfliesen hinaus, nähere mich den Kafés und Restoranti: Sie liegen auf einer Piazza, die von vier gewaltigen Treppen eingerahmt ist. Zwei dieser Treppen führen von der nordöstlichen und der nordwestlichen Ecke einer anderen Piazza herab, die von einer Balustrade umgeben ist; etwas tiefer liegt eine fast identische Piazza, und von dort führen Treppen entlang einer Steinmauer aufwärts, schließen die Piazza im Süden ab und ändern an einem kleinen Absatz wieder die Richtung. Derart setzt sich die Strazza Ce La Daedalii immer weiter fort, immer weiter abwärts, Piazza auf Piazza auf Piazza, die höher und tiefer gelegenen Abschnitte im Nebel oder einfach im

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