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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Dunst der Atmosphäre verborgen, die das Licht in einem wässrigen Blau verwischt, bis in der Ferne schließlich sogar mit einem Fernglas unmöglich Anfang und Ende auszumachen sind. Eine Straße in Schichten, Piazza auf Piazza, also habe ich sie eine Strazza getauft. Ich habe keine Ahnung, wie die Einheimischen sie genannt haben, denn ich bin nicht in der Lage, ihr Alphabet zu entziffern, das aus Schnörkeln und Schleifen besteht.
     
    Ich stelle meinen Espresso auf die rotweiß karierte Wachstuchtischdecke, die einen der Tische des kleinen Kafés bedeckt. Hier habe ich mir ein Zimmer genommen, um meine neuste Unternehmung an den Start zu bringen, buchstäblich. Alsbald schlendere ich über den Platz, um mein neustes Werk zu begutachten.
    Es hat den Anschein, als stünde ich damit in einer langen Tradition; soweit ich das aus den Bildern in den Souvenirläden schließen kann, bin ich nicht der Erste, der sich diese an eine Jakobsleiter gemahnende Straße als Abschussrampe ausgesucht hat. Alte Schwarzweißfotografien, Hochglanzfarbfotografien, Kohleskizzen, Ölgemälde, Blaupausen  – die Stadtführer zeigen phantastische Apparate vergangener Jahrhunderte, von dem einen oder anderen Möchtegerndädalus entworfen und mit trotzigem Geschick gebaut. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie sich die Menschenmengen um die Piazza versammeln, sich auf den Stufen darüber und darunter drängen, von Balkonen und aus mit Fensterläden versehenen Fenstern blicken. Alte Männer mit Pfeifen schütteln die Köpfe, junge Mädchen sinken angesichts des schneidigen, kühnen, todesmutigen und ganz offenbar verrückten Fliegers in Ohnmacht, und ein junger Bursche tut seiner Mutter kund, dass auch er eines Tages einen Versuch unternehmen wird – wie auch immer seine Zukunft aussehen mag, einmal will er den Himmel berühren.
     
    So sehr diese Menschen gefühlsmäßig auch der Begrenztheit des Großen Grabens verhaftet waren, so sehr mussten sie vom Fliegen geträumt haben – von jenem Tag an, als einer ihrer Vorfahren, ein Höhlenmensch, zum ersten Mal sah, wie sich ein Adler in die Lüfte schwang, wie er auf den Luftströmen seine Kreise zog, immer höher hinauf, oder wie er herabstieß, um seine Beute zu fangen. Wie sollten sie angesichts der Vögel nicht begriffen haben, dass eine Loslösung von ihrer Erdverbundenheit einer Revolution gleichkäme, von größerer Tragweite als die Entdeckung des Feuers? Die Freiheit, sich durch die Lüfte zu bewegen, an allen Städten und Dörfern zwischen ihrer rückständigen Provinz und den fernen sagenhaften Städten vorbeizusegeln, über die Zahlstellen und Steuern zu lachen, die von den Weilern gefordert wurden, die selbst über keinerlei Industrie verfügten, nur über das Glück, dem Handel im Wege zu sein. Die Freiheit, mit eigenen Augen zu sehen, was ihnen bisher nur gerüchteweise zu Ohren gekommen war – Geschichten, die Reisende einander wie stille Post zuflüsterten, Gerüchte über einen Gipfel, der in den Wolken verschwand, oder von einem Tal, dessen Grund man nicht sehen konnte, alles aufgrund von Entfernung und Andersartigkeit ins Reich der Mythen entrückt, Gerüchte über phantastische Länder, die – unglaublich, unfassbar – flach waren ...
    Und so kamen sie, Dädalus auf Dädalus, alle hierher, zumindest aus dieser Gegend des Großen Grabens – romantische Narren, von Kaufleuten finanziert, die von einer Welt ohne Grenzen träumten, und alle versuchten sie zu fliegen.
     
    Auf der Piazza steht ein großes Denkmal aus Bronze, das ihnen allen gewidmet ist, ein Monument aus Flügeln und Getriebeteilen. Aus einem Gewirr von Gurten ragen diese Teile wie Fledermausflügel heraus, und obenauf ist eine menschliche Gestalt festgehalten, die Arme nach den Sternen ausgestreckt, als würde sie aus den Trümmern herausgeschleudert, als würde die Seele, noch während die Maschine implodiert, sich in den Fels darunter bohrt, daraus hervorbrechen  – ein Schmetterling, aus einem Kokon kubischer Kupfer- und Eisenstreben geboren. Wie auch in meiner eigenen fernen Welt sind die meisten fehlerhaften Flugmaschinen Tieren nachempfunden, gefiedert und geflügelt, bewegliche Kunstwerke aus dünnem Gewebe und langgezogenen Verbindungsstücken, mit Hand- und Fußpedalen angetrieben, die Muskelkraft durch hydraulische Kolben verstärkt, mit Flügelspannweiten von fünf Metern und mehr. Wie ein Stein müssen sie in den Großen Graben gestürzt sein, oder vielleicht sind die leichteren

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