Vellum: Roman (German Edition)
Gebilde erst ein Stück durch die Luft geglitten, von Staunen und Beifall begleitet, bis sich auf einmal ein entsetzlicher Riss in den Flügeln auftat, gefolgt von Schreien und Tränen, während der große Traum des neuesten Dädalus zersplitterte.
In den Büchern finden sich einige Bilder jener Männer und Frauen, die sich in die Lüfte schwangen – manche mit den einfachsten Tragflügeln, mittels derer sie in den Himmel hinaussegelten und abwärts kreisten, bis sie weit unten in den Wolken verschwanden, ohne die Luftströme zu erwischen, auf denen die Vögel heimwärts gleiten. Ein oder zwei kehrten zu Fuß zurück, nach ungefähr einem Jahrzehnt; ihre ergrauten Gestalten sind neben ihrem jüngeren, lachenden Ich abgebildet, und in Händen halten sie nicht Schalthebel, sondern Wanderstöcke. Ihnen zumindest erging es besser als den Ballonfahrern, die – ausnahmslos! – auf einer unerbittlichen Strömung davontrieben und nie mehr gesehen wurden. Wenn ich die Bilder richtig verstehe, waren selbst die Luftschiffe mit dem stärksten Antrieb nicht in der Lage, die heftigen Fallwinde und Gegenströmungen zu überwinden, die von alterprobten Piloten, von Aeronauten wie von Meteorologen aufgezeichnet worden waren. Wäre es anders gewesen, hätte meine eigene Flugmaschine vielleicht eine vernünftigere Gestalt angenommen.
Das Lachen Leonardos
Ich schlüpfe mit den Füßen in die Steigbügel meines Flugapparates, schnalle die Gurte an und zurre sie fest, spanne Metallverschlüsse und schnalle meine Beine in den leichten, beweglichen Rahmen des Außenskeletts. Es besteht aus einem Material, das in den Büchern der Welt, aus denen es stammt, Schmelz genannt wird. Im ganzen Großen Graben ist es unbekannt, zumindest soweit ich ihn durchstreift habe, und ich bin mir nicht einmal sicher, ob es sich dabei um Plastik oder Metall handelt. Es glänzt wie Chrom, ist geschmeidig und fest und schimmert silbern im Schein der Morgensonne. Aber der ganze komplizierte Apparat wiegt weniger als eine Handvoll Sand und er würde vom Wind mühelos fortgeweht, wäre er nicht an das eiserne Gitter der Kanaldeckel gebunden, die hier und dort über die Marmorplatten der Piazza verstreut sind. Im Vergleich zu Schmelz wirkt Aluminium wie Blei, und wenn Schmelz denn überhaupt ein Metall ist, dann ist es eine Legierung, glaube ich jedenfalls, aus Adamantium und Kavorit – so widerstandsfähig wie das eine und so leicht wie das andere. Ich habe Jahrhunderte gebraucht, um zu lernen, wie man dieses Zeug bearbeitet, und glücklicherweise habe ich einen Vorrat auf meinen langen diagonalen Reisen den Großen Graben hinunter mitgenommen, so viel jedenfalls, wie mein dahinrumpelnder Sattelschlepper transportieren konnte.
Als ich die zusammengefalteten Schwingen hochziehe, um mit den Armen in die Gurte zu schlüpfen, blicke ich zu meinem Fahrzeug hinüber, das an der Straße steht, die von der Piazza wegführt: ein Ungetüm von einem Tieflader, auf dem der uralte Winnebago thront, von zahlreichen Vordächern und Zeltanbauten umgeben – und von einer Holzveranda, die ich selbst zusammengezimmert habe. Und diese riesige fünffingrige Waldovorrichtung, die ihm vorgespannt ist wie die Hand eines Riesen, welche die Rolle der Ochsen übernommen hat! Hätte mich irgendjemand gesehen, als ich in die Stadt einfuhr – was hätten sie wohl von mir gehalten, von diesem verrückten Zigeuner und Wegelagerer, dessen Wagen sogar als Zirkusattraktion herhalten könnte? Ich muss zugeben, dass ich bis zu einem gewissen Grad Vergnügen fand an der Absonderlichkeit der Maschine, die im Laufe meiner Reise auf der Straße des Ewigen Staubes geradezu mit mir verwachsen ist, an den Teilen, die ich auf dieser oder jener Welt an mich gebracht und nach meinen Vorstellungen um- und angebaut habe. Es ist ein wenig traurig, den Sattelschlepper und die absurde Krabbelvorrichtung, die mich drei Jahrhunderte lang über Bergstraßen und Feldwege gezogen hat, nun zurücklassen zu müssen. Aber das endlose Zickzack meines Abstiegs in den Großen Graben führt mich immer weiter fort von dem Weg, dem ich folgen möchte. Ich bin sowieso schon zu weit vom Kurs abgekommen, und wenn ich auf der Straße weiterziehen will, die mir in dem ›Buch‹ vorgezeichnet ist, werde ich die Bequemlichkeit meines schwerfälligen fahrbaren Zuhauses zugunsten von etwas ... Spektakulärerem aufgeben müssen.
Ich lasse den Verschluss des Gurts um meine Taille einschnappen und löse
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