Velten & Marcks - Mordfall Tina Hofer (German Edition)
Vergangenheit gelebt hatte und sich heute außer ihrer Familie und wenigen Freunden kaum noch jemand an sie erinnerte.
„Man müsste eine Zeitmaschine haben“, meinte Katja, die wohl ähnlich empfand wie Velten. „Es ist irgendwie traurig, dass wir Tina nie begegnet sind. Ich habe gestern Abend zuhause viele ihrer Artikel gelesen. Sie schrieb eine großartige Serie über den Raub der Hofstetter-Bilder aus dem städtischen Museum und interviewte Zeitzeugen, die noch die Bombennächte während des Zweiten Weltkriegs erlebt hatten. Man lernt einen Menschen kennen, wenn man liest, wie und worüber er schreibt, findest du nicht auch?“
„Ich weiß nicht.“
„Sie hatte einen eigentümlichen Humor, den sicher nicht jeder mochte. Außerdem verstand sie es, Anspielungen in sehr subtilen Formulierungen zu verstecken.“ Während Katja sprach, war ihr Blick unverwandt auf die schäbige Fassade des Ratskeller s gerichtet. Vielleicht sah sie aber auch durch das Gebäude hindurch in eine Zeit, als Tina Hofer in dieser Stadt den Job machte, der heute ihrer war. „Mir hat gut gefallen, dass sie in ihren Artikeln Menschen zu Wort kommen ließ, über die man sonst wenig liest. Sie sprach mit Straftätern, Krebspatienten, Sozialarbeitern und sogar mit Prostituierten und schrieb auf eine sehr respektvolle und dennoch fesselnde Weise über sie.“
„Wir sollen uns nicht zu sehr in der Vergangenheit verlieren“, schlug Velten vor. Ihm ging Katjas Beschäftigung mit Tinas Arbeit zu weit. „In dem Haus neben dem Ratskeller hat sich ja erst vor Kurzem gezeigt, dass man sonst schnell in Teufels Küche kommt.“ Etwas zurückgesetzt von der Straße und eingeklemmt zwischen dem verwaisten Restaurant und dem modernen Neubau der Pfalzbank verfiel ein düsteres und ebenfalls leerstehendes Wohnhaus, in dessen Keller nach Überzeugung vieler Waldenthaler der Geist einer Toten spukte (s. „Das Hallstein-Haus“, erschienen im Doppelband „Sechs Richtige und ein Todesfall“).
„Vergangenheit und Gegenwart lassen sich doch in diesem Fall überhaupt nicht voneinander trennen“, widersprach Katja. „Der Mörder, der Tina vor zwanzig Jahren umgebracht hat, lebt vielleicht noch heute völlig unbehelligt in dieser Stadt.“
„Das stimmt natürlich“, gab sich Velten geschlagen.
„Wir schulden Tina etwas“, sagte sie bestimmt. „Sie war einer großen Sache auf der Spur und wurde vielleicht deswegen umgebracht. Wir werden herausfinden, was es war. Ich bin sicher, dass sie genau das von uns erwarten würde.“
Schweigend gingen sie zurück zum Pressehaus.
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Im Büro nahm sich Velten die aufgelaufenen E-Mails und Pressemitteilungen vor, doch seine Gedanken schweiften immer wieder von diesen alltäglichen Tätigkeiten ab und kreisten um den Mordfall Tina Hofer. Gab es überhaupt noch eine Chance, ein so lange zurückliegendes Verbrechen aufzuklären? Sie hatten bis jetzt nichts zutage gefördert außer Gerüchten und Spekulationen. Und auch die Kripo schien noch im Nebel zu stochern. Susanne hatte Ferdi Bauer in Verdacht, doch selbst wenn er Tina tatsächlich getötet hatte, würde ihm das nach so langer Zeit kaum noch nachzuweisen sein. Velten seufzte, schob die Gedanken beiseite und widmete sich wieder seiner Routinearbeit.
„Ich habe mir die alten Texte von Alf Kuntz noch einmal durchgelesen“, sagte Katja nach einer Stunde. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie an einem Problem herumgrübelte: „Weißt du, ich würde ja verstehen, wenn er seine Begeisterung für die Pfaffenwiese in einen Kommentar gepackt hätte, aber er lässt in jedem Bericht über den Industriepark anklingen, dass er das Projekt für unverzichtbar und die Gegner für durchgeknallte Spinner hält. Wenn du mich fragst, ist das peinliche Lobhudelei in Reinkultur. Wenn ich so etwas abliefern würde, würdest du es mir zu Recht um die Ohren hauen.“
„Der Morgenkurier war früher stramm konservativ“, gab Velten zu bedenken. „Erst seit Dieter Kreutzer die Gesamtredaktion leitet, verhält sich die Zeitung politisch neutral.“
Sie schüttelte den Kopf: „Das weiß ich natürlich, aber das ist keine ausreichende Erklärung. Bei anderen Themen hat sich Kuntz viel differenzierter geäußert, auch wenn seine politische Überzeugung zwischen den Zeilen natürlich erkennbar blieb.“
„Also gut, worauf willst du hinaus?“
„Er hat für ein Projekt, das damals in der Stadt heftig umstritten war, gezielt
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