Venedig sehen und stehlen
Gestern hatte sie ihm in seiner Pension noch eine Nachricht hinterlassen, auf die er aber nicht reagiert hatte. Auch die anderen »Amici« hatte er gestern nicht gesehen. Er wollte allein und in aller Ruhe dem Guggenheim-Museum einen ausführlichen Besuch abstatten. Dafür verzichtete er auch auf den ingresso libero, den er durch die Kunstfreunde gehabt hätte. Vor allem wollte er kein unnötiges Aufsehen.
Er war in Salute ausgestiegen und zur Guggenheim-Villa hinübergegangen. Sie war gar nicht so leicht zu finden. Die Ansicht vom Canal Grande aus wirkte hell und offen, fast etwas pompös. Der Eingang lag allerdings recht versteckt. Gleich hinter dem Eingangstor stand eine wunderbare Calder-Plastik, die Harry auch gern besessen hätte. Calder war schon lange einer seiner Lieblingskünstler, erst recht, seit Zoe ihn vor Calders kleinem Zirkus im »Whitney« in New York zum ersten Mal geküsst hatte. Aber mit den mehrere Meter hohen Stahlplatten hätte der Calder ihn dann doch vor einige Probleme beim Abtransport gestellt.
Harry erkundete zunächst alle Räume, durch Ostund Westflügel, Vorder- und Hinterräume. Er verschaffte sich erst mal einen Überblick, ehe er sich den einzelnen Objekten widmete. Er ertappte sich dabei, dass er seine Aufmerksamkeit gar nicht so sehr den Bildern, sondern vor allem den Türen zu irgendwelchen Nebenräumen, den verschnörkelten schmiedeeisernen Gittern vor den Fernstern und den kleinen Überwachungskameras, die über den Köpfen der Besucher in den Deckenecken hingen, widmete.
Auf einer nicht besonders großen Ausstellungsfläche standen und hingen relativ dicht die hochkarätigsten Exponate. In der Mitte des Gebäudes, im Zugang zur Terrasse, die über Treppen zum Kanal hinunterführte, hing neben »On the Beach«, einem Picasso in mediterranen Blau- und Beigetönen, noch einmal ein Calder, diesmal eines seiner typischen Mobiles. Im ehemaligen Esszimmer der Villa waren Braque, Léger und noch mal Picasso vereint, in der früheren Küche Max Ernst, Delaunay und Kandinsky. Und dann stand Harry im großen Raum des Ostflügels vor seinem Miró mit dem prosaischen Titel »Sitzende Frau II«.
Er hatte Herzklopfen. Das Bild war größer, als er gedacht hatte. Die Farben beschränkten sich auf Schwarz, Weiß, Ocker und ein paar wenige Flecken in Rostbraun. Die Frauenfigur war auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Größere schwarze Flächen, darauf kleine Fische, insektenartige Fantasietiere und ein Schlangenhals setzten sich zu einer Figur zusammen, die etwas Außerirdisches hatte, unentschlossen zwischen surrealistischer Gegenständlichkeit und Abstraktion. Harry liebte dieses Bild. Schon immer, seit er es das erste Mal gesehen hatte. Die totale Abstraktion, etwa bei Rothko, den er auch sehr verehrte, oder bei den monochromen blauen Leinwänden von Yves Klein war irgendwann ausgereizt. Danach verlangte die Malerei schon wieder nach Gegenständlichkeit. Das Problem kannten Kandinsky oder Miró noch nicht.
Als er jetzt vor dem Bild stand, kam Harry die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, durchaus lösbar vor. Nur die Größe der »Sitzenden Frau II« bereitete ihm Kopfzerbrechen. Mit Rahmen war das Bild sicher nicht zu transportieren. Sie mussten die Leinwand aus dem Spannrahmen heraustrennen. Das Bild war deutlich breiter als einen Meter und hatte sicher eine Höhe von eineinhalb Metern. Hatte er nicht richtig nachgeschlagen oder waren die Angaben im Katalog falsch? Und dann gab es noch ein anderes Problem. Harry hatte sich auf Anhieb noch in eine andere Frau verguckt, die »Stehende Frau« von Alberto Giacometti. Aber deren Abtransport aus dem Museum wäre ganz sicher noch komplizierter als bei der »Sitzenden Frau«.
Für den Miró hatte er schon einen Auftraggeber, einen Stammkunden von Sam Lieberman, den Harry schon mit einer von ihm selbst angefertigten Klee-Radierung beliefert hatte. Über eine Frau hatte dieser etwas dubiose Sammler telefonisch mit ihm Kontakt aufgenommen und sein Interesse an dem Miró bekundet, ohne dass Sam davon wusste. Sam wäre mit diesem Kunstcoup niemals einverstanden gewesen. Er konzentrierte sich auf Fälschungen und die »Vermittlung« von Originalen, wie er die Hehlerei freundlich umschrieb. Diebstahl war ihm viel zu riskant.
Wäre es tatsächlich unprofessionell, wenn sie, nur weil es Harry gefiel, noch ein anderes Werk klauten? Bei seinem ersten Coup war es sein Glück gewesen, dass er sich nicht auf ein Bild beschränkt hatte. Das Bild,
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