Venedig sehen und stehlen
Spitzem. Er hatte in die grüne Anstecknadel gegriffen, die in Francas Jackentasche steckte, die Glasbrosche von Carlo, von Hans-Dieter oder von wem auch immer. Harry steckte sie in ihre Tasche zurück.
Sie hievten Franca in den Raum mit den Krankenakten und legten sie neben einen Schrank, dessen Türen aufgebrochen waren. In den Regalen stapelten sich eingestaubtes Verbandszeug und aufgerissene Medikamentenschachteln. Auf dem Boden lagen, verstreut zwischen Schutt und zerbrochenem Glas, Reste von Tablettenfolien, Scherben zerschlagener Ampullen und sogar einzelne Pillen. Sie befanden sich offensichtlich im ehemaligen Arztzimmer oder Medikamentenraum.
»Das ist doch ein passender Platz für sie«, fand Zoe.
»Fürs Erste ist sie versorgt.«
Sie deckten sie notdürftig mit altem Verbandszeug und einigen der erstaunlich gut erhaltenen Krankenakten ab. Die Schrift war noch deutlich lesbar.
Franca war hier besser untergebracht als Carlo in dem »Molino Stucky«. Es war inzwischen richtig neblig und deutlich kühler geworden. Harry und Zoe begaben sich schleunigst zurück zum Boot, starteten es und steuerten mit aufgezogenem Gas auf die Lagune Richtung Venedig zu.
Mit nervösen Fingern zündete sich Harry eine Chesterfield an. Während der Fahrt zupften sich beide die kleinen Kletten aus den Klamotten und schnipsten sie ins Wasser.
In Venedig wartete die nächste Aufgabe auf sie. Sie wollten noch einmal schnell dem Museum einen Besuch abstatten und den Miró aus dem Wasser holen. Diesmal umfuhren sie Guidecca und steuerten dann an der Punta della Dogana vorbei in den Canal Grande. Auf dem Kanal war kein Verkehr mehr. Nur von Weitem drang ein rauchiges »Unafesta suiprati« durch den Nebel zu ihnen herüber.
Harry machte an dem kleinen Anleger vor dem Westflügel des Museums fest. Es sollte schnell gehen. Zoe blieb im Heck des Bootes sitzen und hielt den Motor am Laufen, falls sie hier überraschend schnell wegmussten.
Harry stieg aus und legte sich an der Stelle, wo er die »Sitzende Frau II« versenkt hatte, auf den Holzsteg. Er tauchte eine Hand ins Wasser und tastete an dem Holzdalben nach der Seilschlinge. Er fand sie auch sofort, genau dort, wo er sie gestern angebracht hatte. Und doch stimmte da etwas nicht. Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder. Sein Herzschlag trommelte und überschlug sich dabei.
Als er an dem Seil zog, spürte er keinen Widerstand, als hätte sich die verpackte und beschwerte Bilderrolle am Ende des Seils gelöst und der Miró wäre, mitsamt roter Murano-Kröte, abgesunken. Er zog noch einmal; vielleicht täuschte er sich ja auch nur. Zoe hatte das Kunststoffpaket eigentlich fest mit dem Seil verschnürt, soweit er das gestern in der Hektik gesehen hatte. Immer schneller, immer hektischer zerrte er die nasse Leine aus dem brackigen Wasser, bis er das lose Ende der Schnur in den Händen hielt. Kein Paket, keine Schlinge, nur das leicht zerfranste Tauende.
19
»Da seid ihr ja wieder!« Britt Benning sprang sofort von ihrem Platz auf und winkte Harry und Zoe zu. »Wo wart ihr denn gestern Abend nur? Wir haben uns schon Sorgen gemacht.«
Da saß die ganze Truppe der Museumsfreunde schon wieder und begrüßte die beiden gestenreich mit Küsschen auf beide Wangen, Doris, Beat, Giovanni-Dieter, der schöne Roberto und zwei Engländerinnen, die Harry und Zoe nicht kannten. Sogar Britt und Beats Tochter Selina saß mal wieder maulend mit am Tisch. Sie hatten sich hier im Garten des »Al Nono Risorto« verabredet, wo es angeblich die beste Pizza der Stadt gab, wo die jungen Künstler der Biennale tranken und wo Harry und Zoe vor ein paar Tagen schon mal eingekehrt waren.
»Nicht nur ihr wart verschollen«, meckerte Hans-Dieter gleich dazwischen. »Caro, Francesca ist völlig von der Bildfläche verschwunden. È scomparsa! « Harry lächelte etwas gequält. Wusste Hans-Dieter etwas von Franca?
»Sie wird schon wieder auftauchen«, sagte Britt Benning. »Habt ihr denn schon die Zeitung gelesen? Wir sind in der Zeitung«, verkündete sie stolz.
Harry zuckte zusammen.
»Doris, hast du die Zeitung noch da?« Strahlend reichte die Therapeutin Harry ein schon etwas mitgenommenes Blatt des »Il Gazzettino«. Auf einem Foto war Mirós »Sitzende Frau II« abgebildet. Ein zweites kleineres Bild zeigte den Japaner und die bleiche Sängerin auf der Performance.
»Gibt es schon eine Spur?«, fragte Zoe. »Von der Täterin und dem Bild?«
»Nein, absolut nichts«, sagte Doris jetzt mit ernster
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