Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
Vom Netzwerk:
hatte. Es   handelte sich um ein goldenes Medaillon, eine kleine ovale Kapsel, die das Bild eines bärtigen Mannes enthielt. In ein paar Wochen, dachte sie, wenn Gras über die Angelegenheit gewachsen wäre, würde sie das Bild wegwerfen und das Medaillon verkaufen. Sie war sich ganz sicher, dass sie einen guten Preis dafür erzielen würde.

2

    Der Traum kam gewöhnlich im Morgengrauen – alle in tensiven Träume, so war sein Eindruck, kamen im Morgengrauen. In seinem Traum lag die Stadt, durch die sich der Katafalk mit dem kaiserlichen Leichnam bewegte, meist unter einer Dunstglocke von Ruß und Nebel, und wenn die Sonne schien, was selten vorkam, dann war sie so klein  und trübe wie eine angelaufene Kupfermünze. Jedes Mal,  wenn der Zug der schwarzen Pferdewagen vor der Hofkir che zum Stehen kam, fühlte er sich schuldig.
    Er hatte diesen Traum zum ersten Mal im April des Jahres 1859 geträumt, als ihn sein kaiserlicher Bruder von einem Tag auf den anderen als Generalgouverneur von Venetien-Lombardien abgesetzt hatte. Seitdem träumte er ihn alle drei Monate, immer den gleichen Traum, mit kleinen, unbedeutenden Variationen. Manchmal schneite es, anstatt zu regnen, und oft war der Schnee dann voller Blut. Das war eine Variante des Traumes, die er hasste und die ihm die Befriedigung darüber, dass er jetzt seinen Bruder als Souverän des Habsburgerreiches abgelöst hatte, vergällte.
    Aber es gab auch andere Varianten dieses Traums – Varianten, die er liebte.  In der schönsten Variante (die nie über seine Lippen gekommen wäre, selbst wenn man ihn mit glühenden Kohlen und Skorpionen gefoltert hätte) stand er nach dem Begräbnis mit seiner Schwägerin Elisabeth in der Kapuzinergruft und spürte, wie der Stoff seiner Admiralsuniform den schwarzen Atlas ihres Trauerkleides berührte. Er rieb sich wie zufällig an ihrer Hüfte, während seine Hand, die sich tröstend um ihre schmale Taille gelegt hatte, langsam nach oben wanderte, um festzustellen, dass das Gerücht, das über Elisabeth im Umlauf war, zutraf. Seine Schwägerin trug tatsächlich kein Mieder. Und unter ihrem schwarzen Kleid hatte sie, wie er ein paar Minuten später feststellte, erstaunlich wenig an.

    Am 3. Oktober 1863 erwachte Maximilian, Erzherzog von  Österreich, kurz nach neun Uhr morgens aus dieser speziellen Variante seines Traumes und wäre am liebsten sofort  wieder eingeschlafen. Diesmal war der Traum besonders  intensiv gewesen.
    Er legte den angewinkelten Arm an die Stirn und seufzte. Der Seufzer, den er von sich gab, war außerordentlich komplex, denn er enthielt nicht nur einen, sondern eine ganze Reihe von Gedanken. Einmal den Gedanken an die Freuden der Kapuzinergruft, dann den Gedanken an seine  katastrophale Finanzlage und schließlich den Gedanken an das Programm des heutigen Tages, das zu bewältigen war.
    Die mexikanische Delegation hatte sich für zwölf Uhr  angesagt. Also blieben ihm fünf Stunden, um noch einmal seine Ansprache durchzugehen, mit seiner Gattin, der Erzherzogin Charlotte, ein spätes Frühstück einzunehmen und sich sorgfältig anzukleiden – womit sich bereits ein schwerwiegendes Problem stellte.
    Sollte er die Uniform eines österreichischen Konteradmirals anziehen, zugehängt mit allen Orden, die ihm sein kaiserlicher Bruder verliehen hatte? Nein – denn im Grunde war er bereits kein österreichischer Konteradmiral mehr.
    Blieb also nur der Frack, was wiederum zu republikanisch aussehen würde. Immerhin hatte die mexikanische Delegation nicht die Absicht, ihn zum Präsidenten der Mexikanischen Republik zu machen, sondern zum Kaiser von Mexiko.
    Maximilian schlug die Decke zurück, schob die Beine  zur Seite und setzte sich vorsichtig auf der Bettkante auf.
    Merkwürdigerweise reagierte sein Körper auf die Verlagerung in die Senkrechte mit großer Gelassenheit. Kein plötzlicher Schwindelanfall, keine schlagartige Verwandlung seines Zimmers in ein rasendes Karussell – es passierte gar nichts. Er hatte nach den drei (oder vier?) Flaschen Tokajer, die er gestern Abend beim Kartenspiel getrunken hatte,  einen dröhnenden Kater erwartet, aber jetzt fühlte er sich nur ein wenig benommen. Das war alles, und es konnte nur daran liegen, dass sich sein Organismus bereits den Anforderungen angepasst hatte, die sein hohes Amt bald an ihn stellen würde.
    Kaiser von Mexiko! Maximilian hätte sofort zugegeben,  dass sich dieser Titel ein wenig – nun ja, vielleicht auch mehr als nur ein wenig –

Weitere Kostenlose Bücher