Venezianische Versuchung
halten. „Der Wind ist eisig.“
Aston nickte nur. Er wusste sehr wohl um die Gefahren, die eine Reise zu dieser Jahreszeit mit sich brachte. Er war so spät im Herbst aufgebrochen, dass man ihm schon in London erklärt hatte, es sei unmöglich, die Alpen zu überqueren. Also hatte er sich entschließen müssen, fast den gesamten Weg per Schiff zurückzulegen, erst über den Atlantik bis Spanien, dann durch die Meerenge von Gibraltar und über das Mittelmeer. Die lange gefährliche Reise hatte genügt, um eine nahezu unüberwindliche Abneigung gegen Schiffe und gegen Seeleute wie diesen Kapitän bei ihm zu wecken.
„Wenn Sie erst einmal in Venedig sind, Euer Gnaden, dann werden Sie bis zum Frühjahr dort bleiben müssen. Im Winter ist es zu beschwerlich, nach Rom, Neapel oder Florenz zu gelangen.“
„Hm …“ Seine Ungeduld wuchs. Er brauchte keine guten Ratschläge von einem Mann wie dem Kapitän! Im Übrigen beabsichtigte er sowieso nicht, Venedig in den nächsten Wochen den Rücken zu kehren. Im Gegenteil, er freute sich auf die weibliche Gesellschaft, die ihn dort erwartete.
„Natürlich werden Sie sich nicht langweilen“, fuhr der Seemann unbeeindruckt von der ablehnenden Haltung seines Passagiers fort. „Ein so gut aussehender Gentleman wie Sie wird schnell Freunde und natürlich vor allem Freundinnen an seiner Seite haben.“
Richard schwieg. Die aufgezwungene Unterhaltung war ihm äußerst unangenehm. Und die schmutzige Fantasie des Kapitäns fand er widerlich. Ihm lag nichts an leichten Mädchen. Seine Gedanken wanderten zu seiner verstorbenen Gattin. Anne war viel mehr für ihn gewesen als die ihm rechtmäßig angetraute Duchess. Er hatte sie als seine beste Freundin betrachtet. Ja, er hatte sie mehr als alles auf der Welt geliebt. Daher war es auch keiner anderen Frau bisher gelungen, Anne zu ersetzen. Tatsächlich schmerzte der Verlust, den er vor so vielen Jahren erlitten hatte, noch immer.
„Ich kann Ihnen sagen, in welchen Häusern es die besten Kurtisanen gibt, Euer Gnaden. Sie können mir vertrauen. Ich weiß, was den englischen Gentlemen gefällt. Die Venezianerinnen sind etwas ganz Besonderes. Sie werden Ihnen so viel Wonne, so viel Lust, so viel …“
„Genug!“, unterbrach Aston den Kapitän in eben jenem Ton, den er sonst anschlug, um widerspenstige Bedienstete, dickköpfige Kinder oder ungehorsame Hunde zur Vernunft zu bringen. Warum schien jeder außerhalb Englands zu glauben, die Mitglieder des englischen Adels seien an nichts anderem interessiert als an willigen Frauen vom Kontinent?
Nach kurzem Zögern zog der Kapitän sich mit einer Verbeugung zurück, und Richard konnte seine Aufmerksamkeit wieder dem Horizont zuwenden. Dunkle Silhouetten von Häusern und Türmen zeichneten sich gegen den grauen Himmel ab. Nun konnte es wirklich nicht mehr weit sein bis Venedig.
Wenig später gesellte sich sein Kammerdiener Wilson zu ihm. Er wollte seinen Herrn daran erinnern, sich umzukleiden, ehe er an Land ging. Aston schüttelte nur den Kopf. Auch der Kapitän tauchte noch einmal auf und versuchte, ihn dazu zu bewegen, sich unter Deck zu begeben. Doch Richard weigerte sich, seinen Platz an der Reling zu verlassen. Während er beobachtete, wie die Besatzung der Schaluppe alles für das Ankermanöver vorbereitete, stellte er sich vor, was ihn in Venedig erwartete. Ah, die Freuden des Wiedersehens! Unwillkürlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er rief sich das fröhliche Lachen in Erinnerung, das ihn so glücklich machte, die weichen Mädchenarme, die sich um seinen Nacken legten, die rosigen Wangen, die leuchtenden Augen. Wie hatte er dies alles während der letzten Monate vermisst!
Kaum lag die Schaluppe vor Anker, als eine Menge kleinerer Boote sich ihr näherte. Die meisten von ihnen hatten eine, wie Richard fand, sehr seltsame Form, lang, schmal und mit weit aufgebogenen Enden, dabei waren sie irgendwie asymmetrisch. Auch schien es jeweils nur einen Mann zu geben, der sie im Stehen mithilfe einer einzelnen langen Ruderstange bewegte.
„Wie nennt man diese Boote, Potter?“, fragte Aston seinen Privatsekretär, der jetzt schon seit einiger Zeit neben ihm an der Reling stand, während das übrige Personal damit beschäftigt war, unter Deck alles für das endgültige Ende der Schiffsreise vorzubereiten.
„Gondeln, Euer Gnaden“, gab Potter, gut informiert und hilfsbereit wie immer, zurück. „Sie sind das für Venedig typische Fortbewegungsmittel, so wie bei uns in
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