Venus
und die Füße zu verhätschelt, aber wir begegnen ihr ja im Moment ihrer Lebenswende, das allein macht sie für uns interessant, also folgen wir ihr weiter.
Doch weil dieser New Yorker Sommer sich besonders schwül anfühlt, so wie jedes Jahr, weil sie erschöpft ist, weil sie keinen Hitzschlag erleiden soll, schicken wir ihr Angebote entgegen. Wir schicken einen Polizisten, einenFeuerwehrmann, einen Soldaten, einen Bodybuilder, einen Skilehrer, starke, potente Männer. Sie kommen in kurzen Abständen auf sie zugelaufen, lächeln, sagen hi, suchen ihren Blick, aber sie sieht sie nicht, sie sieht sie nicht, sie läuft weiter. Also schicken wir ihr einen Akademiker, einen Dichter, einen Studenten, aber auch diese Männer sind offenbar unsichtbar für sie.
Etwa zehn Blocks vor der Houston Street biegt sie urplötzlich nach links ab, läuft ostwärts, zwei Blocks weiter, dann wieder downtown, vorbei an Paolo’s Deli, Laptop Repair, Dolphin Gym, Ugly Coyote Thrift Shop, King’s Pharmacy, Theodoro Grocery, Dry Cleaner and Landromat, Hairdresser unisex. Vor Paolo’s Car Repair jedoch strauchelt sie und fällt. Wir sehen, dass ihre Fußsohlen bluten. Wir sehen, wie ein kahl rasierter Riese in einer orangen Kutte sie aufhebt, auf sie einredet. Wir sehen, wie sie kurz Gegenwehr leistet, wie ihr Gesicht sich höhnisch verzieht, wie sie aber dann aufgibt und nachgibt und sich auf seine starken Arme heben und wegtragen lässt. Wir frohlocken. Eine gefallene Prinzessin und ein Bettelmönch. Eine Mörderin und ein Heiliger. Ihr Anblick und wie sie gemeinsam in einer kleinen Barockkirche auf der Avenue B verschwinden, hat unsere Phantasie angeregt, so sehr angeregt, dass wir alle Termine absagen, dass wir es als unumstößlich betrachten, diesem Paar weiter zu folgen, in ein Treppenhaus, in einen Fahrstuhl, in ein mit Goldbrokat und rotem Samt ausgeschlagenes Zimmer mit niedriger Decke, voll gestopft mit Buddhastatuen, Kruzifixen und kitschigen indischen Göttergemälden.
Schon sitzt sie auf einem Stuhl, der Kopf hängt nach unten, das weißblonde Spaghettihaar hat sich wie einSchleier vor ihrem Gesicht geschlossen. Sie bietet ein Bild des Jammers, das muss man schon sagen, aber selbst im Jammer ist sie noch anmutig. Jetzt, langsam, hebt sie den Kopf, der etwas Gläsernes hat, der Vorhang öffnet sich, mit flaschengrünen Augen unter dichten weißen Wimpern sieht sie sich unwillig um. Was soll man sagen, wenn man aufwacht und sich alles wie ein Traum anfühlt, in diesen Dingen ist selten einer originell.
»Wo bin ich?«, fragt sie da auch schon.
»In God’s Motel«, säuselt ein Stimmchen. »Willkommen!«
Wir werfen nun einen Blick hinter ihre helle Stirn, in das Chaos in ihrem Kopf. Eben denkt sie, sie sei tot und im Himmel. Eine Vorstellung, die ihr gefällt.
»Was ist passiert?« Sie kräuselt ihre perfekte Nase, findet sich umringt von Aschenputteln. Das ist ja ekelhaft, denkt sie. Das kann unmöglich der Himmel sein.
Man kann sich vorstellen, wie fremd sich jemand fühlt, der sonst auf der Upper East Side verkehrt, in Penthäusern mit spiegelblanken Fenstern, die diese Menschen vermutlich niemals betreten werden, es sei denn, sie putzen sie, die Fenster und die Penthäuser.
Neben ihr sitzt ein indisch aussehendes Mädchen, das fast aus seinem Sari platzt, mit hüftlangem schwarzem Haar, glänzend wie Rabengefieder. Sie tätschelt Venus’ Wangen, knetet ihre zarten hellen Hände, stellt ihr mit schwarzem Mund irgendeine Frage, die sie aber nicht beantwortet. Eine Asiatin mit Kopftuch ums ungeschminkte Gesicht bringt eine Tasse Tee, die die Venus aber nicht trinkt. Das wäre ja noch schöner. »Ich trinke einen doppelten Espresso«, lässt sie die Anwesenden wissen, da sie ein verwöhntes Zicklein ist. Die Asiatin schüttelt stummden Kopf, geht wieder weg, kommt mit einem Glas Wasser zurück.
Ein feister Indianer mit einer dicken dunklen Hornbrille wäscht Venus’ Füße und reinigt sie mit Jod. »Aua!«, schreit sie und zieht die Füße weg. Die Sätze des Indianers beginnen mit »Anyway«. Er macht aufmunternde Scherze, über die nur er selbst lacht, im Falsett, während er geziert abwinkt. Ein Orientale mit einem hohen Korkhut und einem bunten Flickenmantel steht an der Tür, die schmutzigen Hände über der Brust gekreuzt, unwirklich wie eine Märchenfigur. Oder ist das ein Traum, denkt unsere Venus. Bin ich etwa auf Drogen?
Noch mehr Menschen sind da, aber sie bleiben schemenhaft. Nur dass ein haariger
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