Venus
langsam, sehr langsam, einige Schränke und Schubladen. »Ich kann dir frische Karotten anbieten und Yogi-Tee.« Es sieht nicht so aus, als würden die beiden kulinarisch ins Geschäft kommen. Genau genommen lässt Venus ihn stehen, geht in ihr Zimmer und knallt die Tür.
Sie sieht sich um. Das Zimmer ist karg wie Karotten und Yogi-Tee. Nichts als Fenster, Tisch, Bett, Madonnenbild. Sie hat in ihrem Kleid geschlafen. Sie hat keinen Kamm, kein Make-up, keine Zahnbürste. Und natürlich wissen wir, wonach sie angstvoll alle vier Wände absucht. Nach einem Spiegel. Sie muss ja furchtbar aussehen! Wie sieht sie überhaupt aus? Kein Spiegel da. Sie hebt eine Strähne ihres hellblonden fast weißen Spaghettihaares hoch und betrachtet sie. Sie sieht sich wieder um. Auch kein Badezimmer.
Sie öffnet die Tür und sieht den Bliss Swami wie einen großen, mit Moos bewachsenen Stein im Goldbrokatzimmer sitzen. Sie würde ihm gern das Lächeln aus dem Gesicht prügeln. Aber ihre gute Erziehung, die sie keineswegs vergessen hat, darauf legen wir Wert, veranlasst sie, ihre wahren Gefühle zu verbergen und zurückzulächeln, etwas maskenhaft, doch für ihn reicht es allemal.
»Wo, bitte, ist das Bad?«, fragt sie. Der Bliss Swami zeigt ihr den Weg zum Flur. Ein Gemeinschaftsbad mit muffigen Handtüchern und struppigen ausgedienten Zahnbürsten armer Leute. Sie verriegelt die Tür und sieht lange in den Spiegel.
Das, was sie sieht, kennt sie nicht. Ein schmales, blasses, müdes Frauengesicht. Flaschengrüne Augen unterdichten weißen Wimpern. Ein Schwanenhals, in dem sie den Puls klopfen sieht. Ein rotes Sommerkleid von einem Designer, dessen Name ihr nichts sagt. Eine schwere Armbanduhr an ihrem Handgelenk. Nichts löst Wiedererkennen aus. Alles kommt ihr unbekannt vor. Die ganze Frau kommt sich unbekannt vor. Wer immer sie ist, sie hat es vergessen.
Unsere Venus setzt sich auf den Wannenrand. Schreck. Angst. Leere. Der Wannenrand ist kühl. Ihre Beine zittern.
Einen Moment lang sind wir unaufmerksam, weil wir in einen kleinen Streit darüber geraten sind, ob wir jetzt schon erzählen sollen, was bisher passierte, denn wir haben, während sie schlief, recherchiert. Die Venus sitzt immer noch ratlos auf dem Wannenrand. Sie öffnet den Spiegelschrank, in dem sich einige leere, staubige Toilettenartikel finden, darunter eine Haartönungswäsche. Sie beschließt, sich vorübergehend den Namen der Haartönungswäsche zu geben. Wir nennen dieselbe rasch »Venus«, weil wir es nicht verantworten können, sie mit dem Namen »Flexible Color« durch unsere Sommergeschichte laufen zu lassen. Venus verlässt das Bad und steuert auf den Mönch zu. Er steht riesig und mit hängenden Armen da, dasselbe unverwüstliche Lächeln im Gesicht, denn er benutzt immer nur das eine. Wie ein Sack hängt der orange Kittel an ihm, erdet ihn, hält ihn auf dem Boden der Tatsachen.
»Ich heiße Venus«, sagt sie, obwohl ihr der Name schon merkwürdig vorkommt, sowohl für eine Haartönungswäsche als auch für sie. Er nickt freundlich und scheint nicht im Geringsten überrascht.
»Bliss Swami.«
»Bliss was?« Sie lacht nervös auf.
»Bliss Swami. Das ist mein spiritueller Name.«
»Wie auch immer«, sagt sie, eisig weht uns ihre Arroganz an. Sie schüttelt den Kopf, als könne sie das alles gar nicht fassen. »Ich möchte so schnell wie möglich …«
In diesem Moment wird uns klar, dass selbst ein vorübergehender Gedächtnisverlust unsere Venus nicht an diesen Ort binden wird. Natürlich kann sie einfach rausmarschieren aus jenem ehrenwerten Haus, das wir ihr als neues Zuhause zugedacht haben. Sie kann etwa zur Polizei laufen, um herauszufinden, wie sie wirklich heißt. Aber das haben wir ja schon herausgefunden. Nein, unsere Geschichte soll nicht so langweilig werden wie das Leben. Keine verpasste Gelegenheit. Venus, die Göttin der Liebe, die Göttin der Schönheit, ganz ohne Verliebung, unmöglich!
Es muss eine Verliebung stattfinden, jetzt und hier, wie ein Blitzschlag muss es sie treffen, und nun lässt sich Zauberei leider nicht umgehen, Zauberei, die aus der Geschichte, die wie ein Krimi begann, ein Märchen machen wird, eine Romanze, denn die schönsten Romanzen spielen unserer Meinung nach in New York.
Wir berühren ihre helle Stirn also sanft, ganz sanft mit dem Zauberstab, und duftende Rosenblüten fallen in ihr Herz. Sie sieht auf, sie sieht den Mann an, der vor ihr steht, und seine Augen sind tiefe, kristallklare Seen, mit
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