Venus
Zwerg in weißer Toga ihr immer wieder das Wasserglas hinschiebt, es ihr sogar an die Lippen hebt, nimmt sie wahr. Sie trinkt. Sie verzieht das Gesicht. Das Wasser schmeckt nach Chlor. Das Zimmer riecht nach Räucherstäbchen. Der Magen des Toga-Zwergs knurrt vernehmlich.
Sie muss raus aus diesem Kostümfundus, raus aus dieser Gesindekammer, in der man ihr sogar den Espresso verweigert.
»Wo kann ich telefonieren?«, fragt sie und sieht sich um. Natürlich ist es pikiert, unser Uptown-Girl mit seinem Marc-Jacobs-Kleidchen aus der neuen Kollektion. Noch greifen wir nicht ein. Im Gegenteil. Wir sind sehr gespannt, wen sie nun anrufen wird. Sie sieht blass aus, vielleicht ist es das sie umspülende Rot des Kleides, vielleicht ist es der unsortierte Farbenwust des multireligiösen Zimmers, aber unsere Venus wirkt durchsichtig, als hätte der Tod des nackten Mannes alle Farbe aus ihr herausgewaschen, als hätte sie gleichsam mit ihm allesBlut verloren, als hätte die Sonne sie gebleicht, anstatt sie zu bräunen.
Der Haarzwerg reißt ein schnurloses Telefon aus dem Holster und reicht es ihr. Sie nimmt es huldvoll in ihre spillerigen Klavierfinger, hält aber inne.
»Neun vorwählen«, sagt Toga mit leiser, eingecremter Stimme und immer noch penetrant knurrendem Magen. Der feiste Indianer, der rote Kriegsbemalung im Gesicht hat, tupft immer noch an ihren Füßen herum. Sie zieht sie weg, woraufhin er eingeschnappt zischt.
»Neun vorwählen«, haucht das Männchen noch mal. Sie tippt mit ihrem perfekt geformten perlmuttlackierten Zeigefingernagel die Neun vor. Aber es ist nicht die Neun, um die es hier geht. Die Neun ist es nicht. Es ist der Rest. Sie kann sich nicht erinnern, was dann kommt. Nicht an die Nummer. Nicht einmal daran, wenn sie anrufen will.
»Wo bin ich hier eigentlich? In einer Klapsmühle?«, ruft sie. Die hektischen Mohnblumen wachsen wieder auf ihrem Hals. Unsere Venus will aufstehen, aber sie schwankt, sie fällt.
Hände, dunkle, raue, abgearbeitete, kräftige Hände, fangen sie auf, kurz sind wir besorgt, man könne unser neues Spielzeug zerbrechen, aber nein, sehr sorgfältig wird es auf ein Sofa gelegt.
»Es sind über vierzig Grad draußen«, haucht Toga, von dem wir annehmen, dass seine Sanftheit gespielt ist. »Da sind Kreislaufprobleme ganz normal.« Sie sieht aus, als wäre sie empört, wenn sie nicht so schwach wäre. Man hat ihr vielleicht Drogen gegeben, sie gekidnappt und bestohlen. Sie muss weg. Sie muss ihre Sachen nehmen und weg.
»Meine Tasche«, ruft sie wie ein König, fehlt nur noch, dass sie ungeduldig in die Hände klatscht.
»Da war keine Tasche«, sagt der Orange Riese.
»Du lügst«, sagt sie. »Du hast mich beklaut! Du hast mich gekidnappt! Ich will nach Hause! Was grinst du so?«
Uns gefällt die Idee, sie hier zu behalten, die Prinzessin auf der Erbse, uns gefällt die Idee immer besser, je weniger sie ihr gefällt. Sie will telefonieren, aber sie weiß nicht, wen anrufen. Sie will nach Hause, aber sie weiß nicht, wo das ist. Was sie nicht zu vergessen haben scheint, sind die kleinen Dinge, die das Leben angenehmer machen.
»Hat jemand eine Zigarette?«
»Wir rauchen hier nicht«, sagt Toga sanft. Sie sieht sich zornig um. Niemand erhebt Protest. »Ich sagte nicht, dass ihr rauchen sollt, sondern dass ich rauchen will.«
»Du rauchst auch nicht, du hast es nur vergessen«, predigt sein kleiner Mund, ein sprudelndes Brünnlein im Dschungel seines Vollbarts. Ich werde gleich aufwachen, denkt sie. Und dann ist es vorbei. Und dann rauch ich eine. Aber sie wacht nicht auf. Und es ist nicht vorbei. Und geraucht wird hier nicht.
»Du kannst heute Nacht hier bleiben«, sagt Toga, und wir können nicht fassen, wie dieses Sahnestimmchen zu den wolligen Unterarmen, zu dem wütenden Verdauungsrumpeln in seinem Leib passen soll. »Morgen wird es dir besser gehen.« Unsere Venus ist plötzlich sehr müde. Sie wirft dem Orangen Riesen, der im Weg steht, einen Blick zu und humpelt Toga nach. Schwer, sehr schwer fühlen sich ihre Beine an, ihr ganzes zartes Knochengerüst scheint aus Blei zu sein. Wir können in siehineinsehen. Ihr Kopf ist leer, das ist der Schock, aber auch ihr Herz ist leer, das wundert uns.
»Wo bin ich überhaupt?«, fragt sie.
»An einem Ort des Friedens«, wispert der kleine Mann an ihrer Seite, »in einer Tempelkirche.«
»Eine … Tempelkirche?«
»Ein Gotteshaus. Tempel, Kirche, Moschee, Synagoge, nenne es, wie du willst.«
Sie folgt ihm, leicht
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