Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
Gewicht einer ländlichen Uhr aus dem Limousin verschwand.
Endlos Zeit noch, bis es sinnvoll war, in die Bar zu gehen.
Es sollte so aussehen, als schneie sie nach einem nächtlichen Bummel hinein. Das Leben ein Zufall.
Nebenan wurde noch immer Debussy gespielt. Vera ging in ihr Schlafzimmer und kehrte mit dem Föhn zurück. Sie hatte heute nicht die Absicht, in einen anderen Spiegel zu gucken als in das liebe gute Ding, das in der Diele hing.
Den nächtlichen Bummel vor dem Barbesuch wollte sie an Nicks Küchentisch verbringen. Leos langjähriger Verlobter tat ihrer lädierten Seele gut. Kein anderer wirkte so beruhigend wie er, vielleicht zu beruhigend für Leo, die noch immer auf getrennten Haushalten bestand.
Vera schüttelte ihre Haare und schaltete den Föhn aus und hörte gerade noch die letzten Klänge des Debussy, bevor er dann aufs Neue einsetzte.
Vielleicht war sie einmal in Nick verliebt gewesen, damals, als er gerade in Leos und ihr Leben gekommen war. Ein paar scharf geblitzte Bilder hatte er auf Leos Schreibtisch gelegt.
Kontrastreiche Schwarzweißfotos, die einen Politiker zeigten, der diesmal nicht als Biedermann verkleidet war, sondern seine gierigen Hände an zwei viel zu junge Mädchen legte.
Leo hatte die Fotos mit großem Bedauern abgelehnt, das Blatt, für das Vera und sie arbeiteten, war von der Sorte, die den Biedermann mit seiner Gattin in Bayreuth abbildete.
Nick war noch unerfahren gewesen, ein Fotograf, der an Gerechtigkeit glaubte. Er tat es immer noch. Doch seine Hoffnungen wurden kleiner. Zu viele Tote, auf die er die Kamera hielt, zu viele zerschundene Kinder, viel zu viele selbstgerechte Gesichter. Und er hatte gelernt, wem er welche Bilder vorlegte. Zu Leo kam er nicht mehr.
Der Debussy brach jäh ab. Vera setzte den Kajalstift an und verwackelte den Strich am linken Auge, als nebenan die Tür zugeschlagen wurde. Zu hundert anderen Gelegenheiten hätte sie es so gelassen, doch heute griff sie nach einem Kleenex und begann von vorne. Lange hatte sie nicht mehr solch eine Sehnsucht danach gehabt, schön zu sein. Obwohl sie dann auch ihre Nase neu einzeichnen sollte. Vera hatte die Nase von ihrem Vater, die großzügig war wie alles, was Gustav Lichte zu vergeben gehabt hatte.
Das schwarze Kleid von Gucci, das lange, dann musste sie nicht wieder am Saum zupfen, während sie sang. Vielleicht sollte sie das überhaupt stehend tun. Nur keine Gewohnheit daraus machen, auf einem Flügel herumzuliegen. Schauen, wie sich der Abend gestaltete.
»Perfect for cocktails. But not for brunch«, sagte Vera, als sie in voller Montur vor dem Spiegel stand. Das Kleid war eine Wucht. Die Kette mit den großen bunten Glassteinen, die sie in Mailand gleich dazu gekauft hatte, auch. Nick würde sie so gar nicht in die Küche lassen wollen, er hatte es gerne ein wenig schlichter, der gute Junge. Doch Jef wusste einen großen Auftritt zu schätzen. Dessen war sie sich sicher.
Es war Viertel nach sieben, als Vera die Wohnung verließ.
Sie hatte die beiden Innentüren des alten Aufzuges schon geschlossen, als von außen daran geklopft wurde.
Eher ein Reflex, dass Vera sie noch einmal öffnete.
»Nehmen Sie mich mit?«, fragte Philip Perak und lächelte. Er sah wirklich aus wie Graf Dracula vor seiner Gruft. Die Haut weiß. Die Haare und die Augen dunkel. Ein schmaler Oberlippenbart. War Christopher Lee nicht glatt rasiert gewesen? Vera versuchte, sich auf den erstklassigen Anzug zu konzentrieren. Austerngrauer Flanell. Zweireihig. Ein völlig unverdächtiges Kleidungsstück.
Perak zog seine Brauen hoch, als er das Gesamtbild von Vera aufnahm. Er nickte. Dann erst trat er in den Aufzug.
»Sie gefallen mir«, sagte er, »Sie gefallen mir sehr.«
Er hörte gar nicht auf zu lächeln.
»Was ist das?«, fragte Nick. »Der Einzug der Königin von Saba?«
»War die so gut angezogen?«, fragte Vera.
»Bei Salomo zu Besuch, da hat sie sicher das gute Kleid aus dem Schrank geholt«, sagte Nick, »schließlich war er der Herrscher von Israel und Juda.«
Vera trat in die Küche und ihr Blick fiel als Erstes auf die Bilder, die auf dem großen Tisch aus Lindenholz lagen. »Warum verbringt ein gebildeter Mann sein Leben damit, lauter Leichen zu fotografieren?«, fragte sie.
»Vier Leichen«, sagte Nick, »eine davon ist heute Vormittag gefunden worden. An der Krugkoppelbrücke.«
»Das ist aber nah«, sagte Vera.
»Nah bei dir«, sagte Nick und sah mit ihr auf die großen Farbabzüge. Vier Frauen.
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