Vera Lichte 01 - Tod eines Klavierspielers
kann sich da verweigern«, sagte Vera. Sie betrachtete die vier Bilder. Sorgfältig. Dann sah sie Nick an. »Sieht aus wie eine winzige Tätowierung«, sagte sie, »und alle vier haben es am unteren Teil des Halses.«
»Kannst du erkennen, was es ist?«
Vera nahm noch einmal die Lupe vors Auge. »Klingt verrückt, aber ich sage, es sind Buchstaben. Vier verschiedene.«
»Erkennst du sie?«
»Eindeutig ein E. Ein M. Das dritte könnte ein Kratzer sein oder vielleicht auch ein I. Dann ein O.«
»Ich denke ein D«, sagte Nick. Er nahm die Bilder und legte sie in anderer Folge vor Vera hin. »Eine chronologische Ordnung der Tode. Das D als erster Buchstabe. Das M als Letzter.«
»Diem«, sagte Vera, »hoffentlich gibt es nicht noch ein Carpe.«
»Gibt es Augenblicke, in denen du ganz und gar ernst bist?«
»O ja«, sagte Vera, »dies ist zum Beispiel einer. Nur habe ich heute nicht ganz die Nerven, mich auf perverse Mörder einzulassen.«
Nick sah gekränkt aus. Er sammelte die Fotografien ein und legte sie oben auf den Küchenschrank. Eine nostalgische Blechdose von Kölln Haferflocken stand dort und wurde von künstlichem Efeu umrankt. Die Wohnung zeigte ohne Zweifel weibliche Züge.
»Du solltest den Kripoleuten das D I E M nicht vorenthalten.«
»Nein«, sagte Nick, »sollte ich nicht.«
»Hoffst du immer noch auf die große Geschichte?«
»Du und ich kommen doch beide in das Alter, in dem wir denken, dass das noch nicht alles gewesen sein kann.«
»Herrje nochmal, Nick«, sagte Vera, »du kannst einem heute tatsächlich den letzten Nerv rauben.« Sie klang verärgert und wusste doch, dass er nah an der Wahrheit war.
»Leo will wohl auch noch was aus der Wundertüte holen«, sagte Nick, »und wo willst du nachher noch hin?«
»In eine Bar auf dem Kiez. Da spielt einer Klavier, der mein Leben umkrempeln könnte.«
Nick sah sie aufmerksam an. »Pass auf dich auf«, sagte er und wusste gar nicht, warum er das sagte. Wahrscheinlich doch nur aus einer kleinen Eifersucht und weil er wirklich schlecht drauf war an diesem Abend.
»Joey, Joey, Joey«, sang Vera und dachte Jef, Jef, Jef. »You been too long in one place and it's time to go«, sang Vera.
»Travel on«, sang Vera und wünschte sehr, dass er bliebe. Hatte sie je in den vergangenen vierundzwanzig Stunden Zweifel gehabt an ihrer jähen Verliebtheit, dann waren die vergangen, als sie Jef am Klavier sitzen sah.
Kurz nach Mitternacht war Vera in den Laden gekommen, ganz nach Plan, obwohl ihr der Abend doch schon am Anfang aus den Fugen geraten war. Schrecklich, auch wenn sie das kaum vor sich selber eingestehen konnte, aber sie hatte den traurigen Nick und seine toten Frauen in dem Augenblick vergessen gehabt. Nicht mal an Leo und ihren vermeintlichen Liebhaber dachte sie länger. Nur noch, dass Jef der hübscheste Junge war, der ihr seit langer Zeit vor die Augen gekommen war. Dabei hatte sie nie auf hübsche Jungen mit dunklen Locken gestanden. Das war die Domäne ihrer Mutter gewesen, die sich nur einmal in ihrem Leben einem großnasigen Herrn mit Halbglatze und Geld genähert hatte. Gustav Lichte.
Joey. Joey. Joey. Vera hatte sich einfach in das Lied fallen lassen, als Jef die ersten Takte spielte. Alles an ihm hatte ausgestrahlt, dass sie genau das tun sollte. In Lieder fallen.
In Liebe fallen. sich an den Flügel lehnen. Star des Abends.
»That's what the wind sings to him«, sang Vera.
Viele Herren und ein paar Damen scharten sich um die kleine Bühne. Keiner schien in Frage zu stellen, dass Vera genau dahin gehörte. Nicht einmal der Besitzer der Bar.
»Do nothin' till you hear from me«, flüsterte Jef in die letzten Takte, und Vera nickte nur und sang Duke Ellingtons Lied und staunte selbst, dass sie all diese Texte im Kopf hatte.
By heart, dachte Vera. Vielleicht war es nur ein weiteres Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit, dass er genau die Lieder spielte, die ihr vertraut waren.
Später, am frühen Morgen, würde sie seinen Namen sagen, als singe sie ihn. Lang. Gedehnt. Jef.
Meine Mutter kam aus Lüttich, würde er sagen.
»Da heißen die Jungen Jef?«
»Manche heißen Jef«, sagte Jef Diem.
Die Wohnung schien auf ganz andere Art still, als sie es sonst war, wenn Vera noch schlief. Anni Kock wusste schon, dass keine Vera im Bett liegen würde, als sie die Tür hinter sich schloss und vorne stehen blieb. Am Ende des langen Flurs leuchtete die kleine Nachttischlampe.
Kurz vor zwölf schon. Anni hatte um zehn Uhr da sein wollen,
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