Vera Lichte 05 - Tod eines Heimkehrers
die den Abend vorbereiteten, das Wochenende. Zu zweit. In der Familie. Im Kreis von Freunden. Wann war das vorgekommen in ihrem Leben?
Lebte sie nicht immer schon allein mit Tisch, Stuhl, Bett, Schrank?
Nein. Sie hatte in einer Gemeinschaft gelebt. Damals.
Doch die Menge schützte sie auch. Das Gedränge vor dem Stand der Fischhändlerin, an dem sie hundert Gramm Seelachs kaufte. Die Schlange vor der Brottheke. Dem Obsthändler aus dem Alten Land.
Einen Kilolaib Brot trug sie nach Hause. Längst gewohnt, es auch hart und trocken zu essen. Äpfel, um nicht an Vitaminmangel zu sterben, ehe ihr etwas ganz anderes geschah.
Sie ließ sich noch eine Weile treiben. An den Blumenständen vorbei. Den Ständen mit den italienischen und arabischen Waren und den nach Gras duftenden Körben aus Vietnam.
Sie selbst hatte nur eine Tüte dabei. Eine Lacktüte mit einer festen Kordel, die sie auf einem Container für Altpapier gefunden hatte.
Eine Levkoje hob sie auf, ehe sie den Markt verließ. Eine Levkoje, die sich wohl aus einem Bund gelöst hatte.
Die Menge schloss sich hinter ihr. Sie fühlte sich unsichtbar. Ahnte nicht, dass Blicke sie berührten.
Hatte Madame Maigret gemeckert, wenn ihr Mann am Samstagmorgen das Haus verließ, um irgendwem dringende Fragen zu stellen? Statt mit Madame Milchkaffee zu trinken und Croissants zu essen?
Da durften sich Männer doch manchmal sehnen nach Frauen, die es hinzunehmen wussten, wenn die Arbeit vorging.
Pits Laune besserte sich nicht einmal, als er gleich einen Parkplatz vor dem Terminal 2 am Hamburger Flughafen fand.
Dora und er hatten einen äußerst netten Abend gehabt und eine äußerst nette Nacht. Nur mit dem Morgen haperte es. Er liebte ihr Temperament, doch es kostete ihn Nerven.
Die junge Frau, die gerade aus Stockholm gekommen war und nach Mailand weiterfliegen wollte, saß schon an der Kaffeebar des Mövenpick.
Erkennbar an dem Turmbau von blondem Haar. Das hatte sie ihm telefonisch angekündigt. Nicht ganz zeitgemäß die Frisur. Doch Pit ließ sich hinreißen von der lasziven Haartracht. Dachte er an die Bardot? Dafür war er zu jung.
Er hatte keine äußeren Auffälligkeiten angekündigt, doch Anna Cordes, verheiratete Forsbjerg, kletterte von ihrem Hocker, kaum dass er die Bar betrat. Hoffentlich sah sie ihm nicht schon von weitem den Kriminalhauptkommissar an.
»Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte sie, »ich weiß ja auch gar nicht, ob das wichtig ist, was ich sagen kann.«
»Das Leben der Marta Gorska ist uns ein Geheimnis«, sagte Gernhardt. »Es scheint keinen Menschen in dieser Stadt zu geben, der ihr noch nahegestanden hätte.«
»Ich kann das Geheimnis nur für zwei Jahre lüften«, sagte Anna Forsbjerg. Sie setzte sich zu ihrer leeren Tasse.
Gernhardt bestellte zweimal Milchkaffee. Dora würde vor Wut schäumen, sähe sie ihn jetzt sitzen mit Kaffee und einer jungen Schönheit.
»Sie haben es über Hamburger Freunde erfahren?«
»Eine Schulfreundin von mir hat sich an den Namen erinnert. Mit einer großen Verzögerung. Wir haben sie alle nur Marta genannt.«
»Ihre Eltern leben nicht mehr in Hamburg?«
»Nein«, sagte Anna Forsbjerg, »sie sind an den Corner See gezogen.«
Sie sahen beide dem Blech mit den hausgemachten Muffins nach, das an ihnen vorbeigetragen wurde. Lächelten sich zu. Wie gut, dass Anna verheiratet war und auf dem Weg zu ihren Eltern.
Sonst wäre Pit in Gefahr gewesen, sich zu verwickeln.
Er bestellte Muffins. Die Zeit würde viel zu schnell vergehen.
»Marta kam als sechzehnjähriges Mädchen zu uns. Sie sollte nur ein halbes Jahr bleiben. Doch dann starben ihre Eltern kurz hintereinander, und meine Mutter bot ihr an, in unserer Familie zu leben, bis zu ihrer Volljährigkeit oder auch länger.«
»Das hat sie angenommen«, sagte Pit.
»Sie war erleichtert. In Krakau gab es nur noch entfernte Verwandte, und Marta wollte ohnehin in Deutschland bleiben. Umso überraschter waren wir, dass sie von einem Tag zum anderen verschwand.«
»Sie ist einfach verschwunden?«
Anna Forsbjerg schüttelte den Kopf. Eine Haarsträhne löste sich.
»Sie hat sich von uns verabschiedet. Mir schenkte sie ein Kreuz aus Bernstein. Doch der Abschied kam von einem Tag zum anderen, und sie hat über ihre Gründe geschwiegen.«
»Und Ihre Eltern haben sie gehen lassen?«, fragte Pit.
»Sie war volljährig geworden. Meine Mutter vermutete, dass ein Mann dahintersteckte. Doch das haben wir nie herausgefunden: Marta hatte sich
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