Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
gestreckt, um nach der Frau Ausschau zu halten.
Sam
war unterdessen einige Schritte zurückgetreten und zwischen Rasmus und mir
stehen geblieben. Er hatte die Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans
gehakt und den Kopf schiefgelegt, als verfolgte er ein mäßig spannendes, aber
zumindest recht unterhaltsames Schauspiel. Schließlich räusperte er sich
demonstrativ und erklärte gelassen:
„Nur
damit es keine Missverständnisse gibt: Im Moment ist meine Gehilfin völlig
sicher, und ich werde dir auch nicht befehlen, das Seil zu zerreißen. Was auch
immer du tust, es liegt ganz bei dir – so wie es in meinen Händen liegt, was
mit Lily passiert.“
Rasmus‘
Schultern unter dem blutigen T-Shirt verkrampften sich bei dieser Drohung. Er
hatte sich halb von mir abgewandt, aber was ich von seinem Gesicht erkennen
konnte, sah so gequält aus, dass ich es nicht länger aushielt.
„Hör
nicht auf ihn“, keuchte ich, „er kann mich nicht töten, und bestimmt darf er
auch keinen Menschen dazu manipulieren!“
Die
Hände des Mannes im Kapuzenpullover drückten meine Arme noch fester zusammen,
um mich zum Schweigen zu bringen, doch Sam zuckte nur unbeeindruckt die
Achseln.
„Danke,
dass du mich daran erinnerst“, sagte er, ohne sich auch nur zu mir umzudrehen,
„schon wieder. Ich habe meinem Gehilfen natürlich entsprechende Instruktionen
gegeben, oder hältst du mich etwa für einen Unmenschen? – Halt“, fügte er
schnell hinzu, als hätte ich überhaupt vorgehabt etwas zu sagen und als müsste
er mich unterbrechen, „beantworte das nicht. War etwas unglücklich formuliert.
Jedenfalls hat dieser Mann den Auftrag bekommen, dich auf keinen Fall zu töten,
aber alles andere überlasse ich ihm und seiner Kreativität. Zum Glück ist der
menschliche Körper ja mit zahlreichen entbehrlichen Teilen ausgestattet; zum
Beispiel wirst du sicher auch gut mit dem einen oder anderen Finger weniger
auskommen. Oder was ist mit diesen hübschen grauen Augen …“
Rasmus
zuckte zusammen, und im nächsten Moment hatte er eine Hand um das gespannte
Seil gelegt. Er ballte die Faust, richtete sich ein wenig auf, während er auch
den anderen Arm hob – und riss seine Hand wieder zurück, als hätte er sich
verbrannt.
„Du
hast doch nicht etwa moralische Bedenken, oder?“, höhnte Sam, doch diesmal
wirkte seine Belustigung gespielt. Ich hatte genau gesehen, wie er sich während
Rasmus‘ Ausbruch erwartungsvoll vorgebeugt hatte, und nun fiel es ihm sichtlich
schwer, wieder seine selbstbewusste Pose einzunehmen. „Diese Frau wollte dich
umbringen, ohne dass ich es ihr befehlen musste. Du schuldest ihr kein Mitleid,
keine Gnade. Wahrscheinlich tust du der Welt sogar einen Gefallen damit. Tritt
als Held ab!“
Rasmus
antwortete nicht. Er hatte den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, und es
war schwer zu sagen, ob er sich wie eine Raubkatze zum Sprung bereitmachte,
oder ob er sich unter der Last von Sams Worten zusammenkrümmte. Als er sich
nach einigen Sekunden immer noch nicht gerührt hatte, machte Sam eine
ungeduldige Bewegung mit der Hand; weil er dabei seinem Gehilfen und mir
weiterhin den Rücken zugekehrt hielt, nahm ich an, die Geste würde Rasmus
gelten.
Der
scharfe Schmerz an meinem Oberarm kam so unerwartet, dass ich einen Schrei
nicht unterdrücken konnte. Instinktiv warf ich mich nach vorne, sodass die
Klinge des Messers wieder aus der Wunde glitt und Sams Gehilfe sich darauf konzentrieren
musste, mich festzuhalten. Erschrocken über meine Unbeherrschtheit sah ich zu
Rasmus hinüber, und er erwiderte meinen Blick – diesmal umklammerte er das Seil
bereits mit beiden Händen –, dann zerrte mich der Mann wieder näher an sich
heran. Mit aller Kraft versuchte ich mich von dem Messer wegzulehnen, das er
erneut erhoben hatte; dabei fragte ich mich benommen, ob ich mir den nächsten
Schmerzenslaut würde verbeißen können. Innerlich versuchte ich mich darauf
vorzubereiten, dass der Mann ein zweites Mal zustach … doch nichts geschah.
Ich
blinzelte den Tränenschleier weg und sah mich vorsichtig um. Sam stand
abwartend da, wie eingefroren in einer Haltung, die von seinem Gehilfen perfekt
gespiegelt wurde. Beide hatten die Augen gebannt auf Rasmus gerichtet, als
rechneten sie damit, dass er jeden Moment handeln würde; doch stattdessen
starrte er mich immer noch an, die Lippen zu einem blassen Strich
zusammengepresst. Eine Mischung aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
spiegelte sich auf seinem Gesicht.
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