Verblendung
Alkohol?«
»Manchmal.«
»Ich hab furchtbar Lust auf was Fruchtiges mit Gin drin. Willst du auch was?«
»Gerne.«
Sie raffte sich ein Laken um den Körper und verschwand ins Erdgeschoss. Mikael nutzte die Gelegenheit, um zur Toilette zu gehen und sich ein bisschen zu waschen. Er stand nackt vor ihrem Bücherregal, als sie mit einer Karaffe Eiswasser und zwei Gin and Lime zurückkam. Sie prosteten sich zu.
»Warum bist du zu mir gekommen?«, fragte sie.
»Einfach so …«
»Zuerst hast du Henriks Bericht gelesen. Und dann bist du direkt zu mir gekommen. Man muss nicht besonders schlau sein, um zwei und zwei zusammenzuzählen.«
»Hast du den Bericht gelesen?«
»Teilweise. Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben mit diesem Bericht verbracht. Man kann keinen Kontakt mit Henrik haben, ohne auch mit dem Rätsel Harriet in Berührung zu kommen.«
»Es ist aber auch wirklich ein faszinierender Fall. Ich meine, diese Insel ist wie ein geschlossenes System. Und nichts in den Ermittlungen scheint normaler Logik zu folgen. Alle Fragen bleiben unbeantwortet, jede Spur führt in eine Sackgasse.«
»Mmmh, von so was können Menschen besessen sein.«
»Du warst an dem Tag auch auf der Insel.«
»Ja, ich war hier und hab das ganze Trara mitbekommen. Eigentlich wohnte und studierte ich in Stockholm. Ich wünschte, ich wäre an dem Wochenende zu Hause geblieben.«
»Wie war sie eigentlich? Die Leute scheinen sie ganz unterschiedlich wahrgenommen zu haben.«
»Ist das hier jetzt off the record , oder …«
»Es ist off the record .«
»Ich habe keinen Schimmer, was in Harriets kleinem Kopf vorging. Du hebst natürlich auf das letzte Jahr ab. Mal war sie auf einem völlig durchgedrehten religiösen Trip. Dann legte sie wieder Make-up auf wie eine Nutte und ging mit dem engsten Pullover in die Schule, den sie im Schrank hatte. Man muss kein Psychologe sein, um zu verstehen, dass sie zutiefst unglücklich war. Aber wie gesagt, ich habe nicht hier gewohnt und kenne bloß das Gerede.«
»Was hat die Probleme denn ausgelöst?«
»Ich denke, es war die verrückte Ehe ihrer Eltern. Entweder machten sie zusammen einen drauf oder sie bekämpften einander. Nicht körperlich - Gottfried war nicht gewalttätig und hatte außerdem Angst vor Isabella. Sie hatte schreckliche Launen. Irgendwann Anfang der sechziger Jahre zog er mehr oder weniger dauerhaft in sein Haus am anderen Ende der Insel, wo Isabella niemals hinging. Phasenweise tauchte er völlig verlottert in der Stadt auf. Dann war er wieder nüchtern und zog sich ordentlich an und versuchte, seine Arbeit zu machen.«
»Gab es niemanden, der versucht hätte, Harriet zu helfen?«
»Henrik natürlich. Sie zog ja zum Schluss in sein Haus. Aber du darfst nicht vergessen, dass er auch damit beschäftigt war, die Rolle des Großindustriellen zu spielen. Er war meist irgendwo unterwegs und hatte keine Zeit, auf die Kinder aufzupassen. Ich habe vieles nicht mitbekommen, weil ich zuerst in Uppsala wohnte und danach in Stockholm. Ich hatte es auch nicht leicht mit Harald als Vater, das kann ich dir versichern. Aber das Hauptproblem lag darin, dass Harriet sich nie jemandem anvertraute. Im Gegenteil, sie versuchte immer, den Schein zu wahren und so zu tun, als wären sie eine glückliche Familie.«
»Einfach alles verdrängen?«
»Klar. Aber sie veränderte sich, als ihr Vater ertrank. Da konnte sie nicht mehr so tun, als wäre alles in Ordnung. Von da an war sie - ich weiß nicht, wie ich es erklären soll - hochbegabt und frühreif, aber gleichzeitig ein ganz normaler Teenager. Auch im letzten Jahr hatte sie brillante Schulnoten, aber es kam einem so vor, als hätte sie keine eigene Seele.«
»Wie ist ihr Vater ertrunken?«
»Gottfried? Prosaischer geht’s kaum. Er fiel beim Bootssteg vor seinem Häuschen aus seinem Ruderboot. Er hatte den Hosenschlitz offen und einen extrem hohen Blutalkoholgehalt, du kannst dir also vorstellen, was passiert ist. Martin hat ihn gefunden.«
»Das wusste ich nicht.«
»Das ist schon lustig. Martin ist zu einem richtig guten Kerl herangewachsen. Hättest du mich vor fünfunddreißig Jahren gefragt, hätte ich gesagt, dass er derjenige ist, der in dieser Familie einen Psychologen braucht.«
»Wieso denn das?«
»Harriet war nicht die Einzige, die unter der Situation litt. Martin war jahrelang so still und verschlossen, dass man ihn fast schon als menschenscheu bezeichnen konnte. Beide Kinder hatten es schwer. Ich meine, schwer hatten wir es
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