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alle. Ich nehme an, dir ist schon aufgegangen, dass mein Vater völlig verrückt ist. Meine Schwester Anita hatte dieselben Probleme mit ihm, genauso Alexander, mein Cousin. Es war ganz schön hart, Kind in der Familie Vanger zu sein.«
»Was geschah mit deiner Schwester?«
»Anita wohnt in London. Sie ist in den siebziger Jahren dorthin gegangen, um in einem schwedischen Reisebüro zu arbeiten und ist geblieben. Sie hat irgendeinen Typen geheiratet, den sie der Familie nie vorgestellt hat und von dem sie sich mittlerweile getrennt hat. Heute ist sie leitende Angestellte bei British Airways. Wir verstehen uns gut, haben aber nur sehr losen Kontakt und treffen uns alle zwei Jahre oder so. Sie kommt nie nach Hedestad.«
»Warum nicht?«
»Weil unser Vater verrückt ist. Reicht das nicht als Erklärung?«
»Aber du bist hiergeblieben.«
»Ich und Birger, mein Bruder.«
»Der Politiker.«
»Genau. Birger ist älter als Anita und ich. Wir haben nie besonders guten Kontakt gehabt. Er hält sich tatsächlich für einen bedeutenden Politiker mit einer Zukunft im Reichstag, vielleicht sogar als Minister, wenn die Konservativen gewinnen sollten. In Wirklichkeit ist er ein mäßig talentierter Kommunalpolitiker in einem Provinzkaff, und das dürfte dann wohl auch schon der Höhepunkt und zugleich der Schlusspunkt seiner Karriere gewesen sein.«
»Eine Sache, die mich an der Familie Vanger fasziniert, ist, dass alle schlecht voneinander denken.«
»Das stimmt nicht ganz. Ich mag Martin und Henrik furchtbar gern. Und ich habe mich immer gut mit meiner Schwester verstanden, obwohl wir uns nur sehr selten treffen. Ich hasse Isabella und habe nicht sonderlich viel für Alexander übrig. Allerdings spreche ich nicht mit meinem Vater. Birger ist … hmm, eher ein aufgeblasener Trottel als ein schlechter Mensch. Aber ich verstehe schon, was du meinst. Sieh es mal so: Wenn man zur Familie Vanger gehört, lernt man sehr früh, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir sagen, was wir denken.«
»Ja, ich habe schon gemerkt, dass ihr keine großen Umstände macht.« Mikael streckte die Hand aus und berührte ihre Brust. »Ich war gerade mal eine Viertelstunde hier, als du mich überfallen hast.«
»Ehrlich gesagt, habe ich von Anfang an darüber nachgedacht, wie du wohl im Bett bist. Und es war absolut kein Fehler, es auszuprobieren.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Lisbeth Salander ein dringendes Bedürfnis, jemanden um Rat zu bitten. Das Problem war allerdings, wenn sie jemanden um Rat fragen wollte, musste sie sich ihm wohl auch anvertrauen, und das wiederum bedeutete, dass sie sich jemandem ausliefern und ihre Geheimnisse preisgeben musste. Wem sollte sie sie erzählen? Was Kontakte zu anderen Menschen anging, war sie einfach hoffnungslos untalentiert.
Lisbeth Salander hatte sorgfältig nachgezählt, als sie ihr Adressbuch im Kopf durchging, und kam auf zehn Personen, die man irgendwie zu ihrem Bekanntenkreis rechnen konnte. Sie selbst wusste am besten, dass das noch großzügig angesetzt war.
Sie konnte mit Plague reden, der eine einigermaßen feste Größe in ihrem Leben war. Aber er war absolut kein Freund und der Letzte, der etwas zur Lösung ihres Problems hätte beitragen können. Das war auch keine Alternative.
Lisbeth Salanders Sexleben war nicht ganz so bescheiden, wie sie Bjurman gegenüber behauptet hatte. Doch Sex hatte immer (oder jedenfalls ziemlich oft) zu ihren Bedingungen und auf ihre Initiative hin stattgefunden.
Wenn sie nachrechnete, hatte sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr ungefähr fünfzig Partner gehabt. Das bedeutete zirka fünf Sexpartner pro Jahr, was ganz okay war für einen weiblichen Single, der im Laufe der Jahre begonnen hatte, Sex als vergnüglichen Zeitvertreib zu betrachten.
Die meisten dieser zufälligen Partner hatte sie jedoch in einer knapp zweijährigen Phase gehabt, was die monatliche Statistik für diese Zeit beträchtlich nach oben korrigierte. Das war in der turbulenten Endphase ihrer Teenagerzeit gewesen, als sie eigentlich volljährig hätte werden sollen . Eine Weile hatte Lisbeth Salander vor einem Scheideweg gestanden und ihr Leben nicht so recht unter Kontrolle gehabt. Doch seit sie zwanzig geworden war und bei Milton Security arbeitete, hatte sie sich deutlich beruhigt und - wie sie selbst fand - ihr Leben in den Griff gekriegt.
Sie fühlte sich nicht länger verpflichtet, jemandem zu Willen zu sein, der sie in der Kneipe auf drei Bier eingeladen hatte, und
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