Verblendung
sie empfand es nicht mehr als Akt der Selbstverwirklichung, einen Betrunkenen nach Hause zu begleiten, dessen Namen sie kaum kannte. Im letzten Jahr hatte sie einen einzigen regelmäßigen Sexpartner gehabt und konnte schwerlich promiskuitiv genannt werden, wie es die Eintragungen in ihrer Akte andeuteten.
Sex hatte sie meistens mit jemandem aus der losen Clique gehabt, zu der sie eigentlich nicht gehörte, in der sie aber akzeptiert wurde, weil sie Cilla Norén kennengelernt hatte. Sie traf Cilla am Ende ihrer Teenagerzeit, als sie - auf Palmgrens beharrliches Drängen - versucht hatte, ihre fehlenden Schulabschlüsse in der Abendschule nachzuholen. Cilla hatte pflaumenfarbenes Haar mit schwarzen Strähnchen, trug schwarze Lederhosen, einen Ring in der Nase und genauso viele Nieten im Gürtel wie Lisbeth. In der ersten Stunde hatten sie sich misstrauisch beäugt.
Aus irgendeinem Grund, der Lisbeth nicht ganz klar wurde, hatten sie sich angefreundet. Lisbeth war nicht gerade der unkomplizierteste Mensch, mit dem man sich anfreunden konnte - in jenen Jahren erst recht nicht -, aber Cilla hatte ihr mürrisches Schweigen ignoriert und sie mit in die Kneipe geschleift. Durch sie war Lisbeth Mitglied der Evil Fingers geworden, eigentlich eine aus vier Enskeder Teenagermädchen bestehende Vorstadt-Band, die Hardrock liebten, zehn Jahre später jedoch eine größere Clique bildeten, die sich am Dienstagabend in der Mühle traf, um über Typen, Feminismus, Pentagramme, Musik und Politik zu quatschen und dabei große Mengen Bier zu trinken. Sie trugen ihren Namen auch nicht zu Unrecht.
Lisbeth lief am Rande der Gang mit und trug selten etwas zum Gespräch bei, aber sie wurde so akzeptiert, wie sie war, konnte kommen und gehen, wie es ihr passte, oder auch den ganzen Abend schweigend vor ihrem Bier sitzen. Sie wurde auch zu Geburtstags- und Weihnachtspartys nach Hause eingeladen, obwohl sie fast nie kam.
In den fünf Jahren, die sie mit den Evil Fingers zusammen war, hatten sich die Mädchen verändert. Die Haarfarben waren normaler geworden, und ihre Klamotten stammten immer öfter von H & M statt aus irgendwelchen Secondhandläden. Sie studierten oder arbeiteten, und eines der Mädchen war Mutter geworden. Lisbeth fühlte sich, als sei sie die Einzige, die sich nicht im Geringsten verändert hatte, was freilich auch heißen konnte, dass sie auf der Stelle trat.
Sie hatten aber immer noch Spaß, wenn sie sich trafen. Wenn sie je ein Gemeinschaftsgefühl erlebte, dann war es in Gesellschaft der Evil Fingers , und als Verlängerung quasi mit den Typen aus dem Bekanntenkreis der Mädchen.
Die Evil Fingers würden zuhören. Sie würden ihr auch helfen. Aber sie wussten nicht, dass Lisbeth Salander per Gerichtsbeschluss für geschäftsunfähig erklärt worden war. Sie wollte nicht, dass sie sie noch schiefer anschauten, als sie es sowieso schon taten. Auch das war keine Alternative.
Ansonsten hatte sie keinen einzigen ehemaligen Mitschüler in ihrem Adressbuch. Sie hatte nicht das geringste Kontaktnetz. An wen sollte sie sich also wenden, um von ihrem Problem mit Rechtsanwalt Bjurman zu erzählen?
Einer war da vielleicht. Sie überlegte lange und gründlich, ob sie sich Dragan Armanskij anvertrauen, bei ihm klopfen und ihre missliche Lage erklären sollte. Er hatte gesagt, sie solle nicht zögern, sich an ihn zu wenden, wenn sie einmal Hilfe brauche. Sie war überzeugt, dass er es ernst gemeint hatte.
Auch Armanskij hatte sie einmal begrabscht, aber es war ein freundliches Grabschen ohne böse Hintergedanken gewesen und keine Machtdemonstration. Dennoch widerstrebte es ihr, ihn um Hilfe zu bitten. Er war ihr Chef, und sie würde ihm dadurch etwas schuldig sein. Sie fragte sich, wie ihr Leben aussehen würde, wenn Armanskij ihr Betreuer wäre und nicht Bjurman. Sie lächelte plötzlich. Der Gedanke war nicht unangenehm, aber Armanskij würde seinen Auftrag wahrscheinlich so ernst nehmen, dass er sie mit seiner Fürsorge fast ersticken würde. Das war … hmm, vielleicht eine Alternative .
Obwohl sie sehr gut wusste, wofür es Frauenhäuser gab, fiel es ihr gar nicht ein, sich an so eine Einrichtung zu wenden. Frauenhäuser waren in ihren Augen etwas für Opfer , und als solches hatte sie sich noch nie gesehen. Ihre einzige verbliebene Alternative bestand also darin, das zu tun, was sie schon immer getan hatte - die Sache selbst in die Hand zu nehmen und ihre Probleme eigenhändig zu lösen. Das war definitiv eine
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