Verblendung
dunkles T-Shirt in der Hand, das Martin Vanger gehört hatte.
»Zieh das an. Ich will nicht, dass irgendjemand dich hier nachts mit nacktem Oberkörper rumlaufen sieht.«
Mikael begriff, dass er unter Schock stand. Sie hatte das Kommando übernommen, und er gehorchte willenlos ihren Befehlen. Sie führte ihn von Martin Vangers Haus fort. Die ganze Zeit hielt sie ihn fest. Als sie vor der Tür zu Mikaels Häuschen angekommen waren, hielt sie inne.
»Wenn uns jemand gesehen hat und fragt, was wir nachts draußen gemacht haben, dann haben wir zwei auf der Landzunge einen Nachtspaziergang gemacht und Sex gehabt.«
»Lisbeth, ich kann nicht …«
»Stell dich unter die Dusche. Jetzt.«
Sie half ihm aus seinen Kleidern. Dann setzte sie den Kaffeekessel auf und schmierte schnell ein halbes Dutzend Brote mit Käse, Leberwurst und Salzgurken. Als Mikael wieder ins Zimmer gehinkt kam, saß sie am Küchentisch und dachte intensiv nach. Sie musterte die Blutergüsse und Schürfwunden an seinem Körper. Die Würgeschlinge hatte so tief eingeschnitten, dass er ein dunkelrotes Mal um den ganzen Hals zurückbehalten hatte, und das Messer hatte einen blutigen Riss in der Haut an seiner linken Halsseite hinterlassen.
»Komm«, sagte sie. »Leg dich ins Bett.«
Sie holte Pflaster und deckte die Wunde mit einer Kompresse ab. Danach goss sie Kaffee ein und stellte die belegten Brote auf den Tisch.
»Ich hab keinen Hunger«, sagte Mikael.
»Iss!«, kommandierte Lisbeth und nahm einen großen Bissen.
Mikael blinzelte ein Weilchen. Schließlich setzte er sich auf und aß. Sein Hals war so wund, dass er nur mit Mühe schlucken konnte.
Lisbeth zog ihre Lederjacke aus und holte ein Döschen Tigerbalsam aus ihrem Kulturbeutel.
»Lass den Kaffee noch ein bisschen abkühlen. Leg dich auf den Bauch.«
Sie massierte ihm fünf Minuten mit der Salbe den Rücken. Dann drehte sie ihn um und ließ seiner Vorderseite die gleiche Behandlung angedeihen.
»Du wirst noch eine Weile ganz schöne blaue Flecken haben.«
»Lisbeth, wir müssen die Polizei anrufen.«
»Nein!«, gab sie so entschieden zurück, dass Mikael sie erstaunt ansah. »Wenn du die Polizei rufst, dann hau ich ab. Mit denen will ich nichts zu tun haben. Martin Vanger ist tot. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er war allein im Auto. Es gab Zeugen. Lass die Polizei oder irgendjemand sonst diese verdammte Folterhöhle entdecken. Du und ich wissen genauso wenig von ihrer Existenz wie alle anderen hier in der Stadt.«
»Warum?«
Sie ignorierte ihn und massierte seine schmerzenden Oberschenkel.
»Lisbeth, wir können nicht einfach …«
»Wenn du mich weiter nervst, dann schleif ich dich zurück in Martins Höhle und kette dich wieder an.«
Während sie redete, schlief Mikael so plötzlich ein, als wäre er ohnmächtig geworden.
25. Kapitel
Samstag, 12. Juli - Montag, 14. Juli
Mikael wurde gegen fünf Uhr morgens schlagartig wach und fuhrwerkte hektisch an seinem Hals herum, um die Schlinge zu entfernen. Lisbeth kam in sein Zimmer, nahm seine Hände und hielt ihn fest. Er schlug die Augen auf und sah sie mit vernebeltem Blick an.
»Ich wusste gar nicht, dass du Golf spielst«, murmelte er und schloss die Augen wieder. Sie blieb noch ein paar Minuten bei ihm sitzen, bis sie sicher war, dass er wieder schlief. Zwischenzeitlich war Lisbeth in Martin Vangers Keller zurückgegangen, um den Tatort zu untersuchen. Neben den Folterwerkzeugen hatte sie eine große Sammlung von Heften mit Gewaltpornographie gefunden und jede Menge Polaroidbilder, die in ein Album eingeklebt worden waren.
Ein Tagebuch hatte es nicht gegeben. Allerdings hatte sie zwei A4-Ordner mit Passfotos und handschriftlichen Notizen zu verschiedenen Frauen gefunden. Sie hatte die Ordner in einer Nylontasche mitgenommen, ebenso Martin Vangers Laptop, den sie auf dem Flurtisch im Obergeschoss entdeckt hatte. Als Mikael wieder eingeschlafen war, fuhr Lisbeth damit fort, Martin Vangers Computer und seine Ordner durchzugehen. Es war sechs Uhr morgens, als sie den Laptop ausschaltete. Sie steckte sich eine Zigarette an und biss nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, während sie überlegte.
Gemeinsam mit Mikael hatte sie die Jagd auf einen vermeintlich in der Vergangenheit aktiven Serienmörder aufgenommen. Sie hatten etwas völlig anderes gefunden. Sie konnte sich kaum ausmalen, was für grauenhafte Szenen sich in Martin Vangers Keller abgespielt haben mussten, mitten in dieser trauten
Weitere Kostenlose Bücher