Verblendung
das alles ist zu viel für ihn geworden. Zumindest habe ich den Verdacht, dass es so in den Schlagzeilen zu lesen sein wird.«
Frode sah aus, als würde er gleich einen Schlag erleiden. Hastig stand er auf, ging zum Schlafzimmer und öffnete die Tür.
»Lassen Sie ihn schlafen!«, sagte Lisbeth scharf.
Frode betrachtete den Schlafenden. Er sah die Blessuren in seinem Gesicht und die Blutergüsse auf dem Oberkörper. Dann entdeckte er den flammend roten Strich, wo die Würgeschlinge gesessen hatte. Frode wich zurück und ließ sich langsam aufs Küchensofa sinken.
Lisbeth erzählte in Kurzfassung, was in der Nacht zuvor passiert war. Ausführlich beschrieb sie ihm Martin Vangers Kammer des Schreckens. Erzählte, wie sie Mikael mit einer Würgeschlinge um den Hals gefunden hatte, vor sich den geschäftsführenden Direktor des Vanger-Konzerns. Wie sie tags zuvor im Firmenarchiv entdeckt hatte, dass sie Martins Vater mit mindestens sieben Frauenmorden in Verbindung bringen konnte.
Frode unterbrach sie nicht ein einziges Mal. Als sie zu Ende gesprochen hatte, blieb er ein paar Minuten still sitzen, bis er schließlich heftig ausatmete und den Kopf schüttelte.
»Was sollen wir unternehmen?«
»Das ist nicht mein Problem«, erwiderte Lisbeth mit ausdrucksloser Stimme.
»Aber …«
»Ich habe niemals auch nur einen Fuß nach Hedestad gesetzt.«
»Bitte?«
»Ich will auf keinen Fall in irgendeinem Polizeibericht auftauchen. In diesem Zusammenhang existiere ich nicht. Wenn mein Name mit dieser Geschichte in Verbindung gebracht werden sollte, dann werde ich leugnen, jemals hier gewesen zu sein, und ich werde keine einzige Frage beantworten.«
Frode sah sie forschend an.
»Das verstehe ich nicht.«
»Das brauchen Sie auch nicht zu verstehen.«
»Was soll ich denn tun?«
»Das entscheiden Sie selbst, solange Sie nur Mikael und mich aus dem Spiel lassen.«
Frode war leichenblass.
»Sehen Sie’s doch mal so: Das Einzige, was Sie wissen, ist, dass Martin Vanger bei einem Autounfall ums Leben kam. Sie haben keine Ahnung, dass er obendrein ein wahnsinniger Mörder ist, und Sie haben noch nie von diesem Raum gehört, den er in seinem Keller hat.«
Sie legte den Schlüssel auf den Tisch zwischen ihnen.
»Sie haben Zeit, bis jemand Martins Keller aufräumt und den Raum entdeckt. Das dauert vielleicht noch ein Weilchen.«
»Wir müssen mit dieser Geschichte zur Polizei gehen.«
»Nicht wir . Sie können zur Polizei gehen, wenn Sie wollen. Das ist Ihre Entscheidung.«
»Das darf nicht einfach vertuscht werden.«
»Ich schlage ja auch gar nicht vor, dass es vertuscht wird, sondern nur, dass Mikael und ich aus dem Spiel bleiben. Wenn Sie den Raum entdecken, dann ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse und entscheiden selbst, wem Sie davon erzählen wollen.«
»Wenn das alles stimmt, was Sie mir erzählt haben, dann hat Martin Frauen gekidnappt und ermordet … und irgendwo muss es auch verzweifelte Familien geben, die nicht wissen, wo ihre Kinder sind. Wir können nicht nur …«
»Das stimmt. Aber da gibt es Probleme. Die Leichen sind verschwunden. Vielleicht finden Sie einen Pass oder einen Personalausweis in irgendeiner Kiste. Vielleicht kann eines der Opfer auch mit Hilfe der Videofilme identifiziert werden. Aber Sie brauchen heute keinen Entschluss mehr zu fassen. Denken Sie über die Sache nach.«
Frode wirkte völlig panisch.
»O mein Gott. Das wird dem Konzern den Todesstoß versetzen. Wie viele Familien werden arbeitslos, wenn herauskommt, dass Martin …«
Frode wiegte sich vor und zurück. Er stand vor einem moralischen Dilemma.
»Das ist ein Aspekt. Ich nehme mal an, dass Isabella Vanger ihren Sohn beerbt. Ich glaube nicht, dass es so gut wäre, wenn sie als Erste von Martins Hobby erfährt.«
»Ich muss nachsehen …«
»Ich denke, Sie sollten sich heute von diesem Raum fernhalten«, sagte Lisbeth scharf. »Sie haben jede Menge zu tun. Sie müssen zu Henrik fahren und ihn informieren, eine außerordentliche Vorstandssitzung einberufen und all das tun, was Sie auch hätten tun müssen, wenn Ihr geschäftsführender Direktor unter völlig normalen Umständen ums Leben gekommen wäre.«
Frode dachte über ihre Worte nach. Er hatte Herzklopfen. Er war der alte Anwalt, der Problemlöser, von dem man erwartete, dass er für jede Widrigkeit einen Plan parat hatte - aber er fühlte sich handlungsunfähig. Ein junges Mädchen mit seltsamem Aussehen hatte die Kontrolle übernommen, dachte er.
»Und
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