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Verblendung

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Titel: Verblendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stieg Larsson
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Idylle.
    Sie versuchte zu begreifen.
    Martin Vanger hatte seit den sechziger Jahren Frauen getötet, in den letzten fünfzehn Jahren mit einer Frequenz von ungefähr einem oder zwei Opfern pro Jahr. Die Tötung war so diskret und wohldurchdacht, dass niemand bemerkt hatte, dass ein Serienmörder am Werk war. Wie war so etwas möglich?
    Die Ordner beantworteten diese Frage zumindest teilweise.
    Seine Opfer waren anonyme Frauen, oft gerade erst in Schweden angekommene Einwanderinnen, die weder Freunde noch andere Sozialkontakte in Schweden hatten. Daneben fanden sich auch noch Prostituierte und Außenseiterinnen der Gesellschaft, die Drogenprobleme oder anderweitige soziale Schwierigkeiten hatten.
    Aus ihren eigenen Studien über die Psychologie des sexuellen Sadismus hatte Lisbeth Salander gelernt, dass diese Art Mörder gerne Souvenirs von ihren Opfern sammelten. Solche Souvenirs dienten als Erinnerung, mit deren Hilfe der Mörder sein erlebtes Vergnügen nach Bedarf wieder aufleben lassen konnte. Martin Vanger hatte diese Gewohnheit gepflegt, indem er ein Todesbuch führte. Er hatte seine Opfer sorgfältig katalogisiert und benotet. Er hatte die Leiden seiner Opfer kommentiert und beschrieben. Er hatte sein mörderisches Tun mit Videofilmen und Fotografien dokumentiert.
    Gewalt und Töten, das war seine Zielsetzung, aber Lisbeth kam zu dem Schluss, dass es in Wirklichkeit die Jagd war, die ihn hauptsächlich interessiert hatte. In seinem Laptop hatte er eine Datenbank angelegt, in der Hunderte von Frauen gespeichert waren: Angestellte des Vanger-Konzerns, Bedienungen in Restaurants, die er häufig besuchte, Empfangsdamen in Hotels, Personal der Kranken- und Sozialversicherung, Sekretärinnen von Geschäftsfreunden. Anscheinend nahm Martin Vanger so gut wie jede Frau in sein Verzeichnis auf, mit der er jemals in Kontakt gekommen war, und erforschte ihr Leben so umfassend wie möglich.
    Nur einen Bruchteil von ihnen hatte er tatsächlich ermordet, aber alle Frauen in seiner Umgebung waren potenzielle Opfer, über die er Buch führte und die er genau beobachtete. Diese systematischen Untersuchungen hatten geradezu den Charakter eines Hobbys, dem er Tausende von Stunden gewidmet haben musste.
    Ist sie verheiratet oder ledig? Hat sie Kinder und Familie? Wo arbeitet sie? Wo wohnt sie? Was für eine Ausbildung hat sie? Haarfarbe? Hautfarbe? Figur?
    Lisbeth kam zu dem Schluss, dass dieses Sammeln persönlicher Informationen über seine potenziellen Opfer ein wichtiger Bestandteil von Martin Vangers sexuellen Phantasien gewesen sein musste. Er war in erster Linie ein Stalker und erst in zweiter Linie ein Mörder.
    Als Lisbeth fertig gelesen hatte, entdeckte sie ein kleines Kuvert in einem der Umschläge. Sie fummelte zwei abgegriffene, verblichene Polaroidaufnahmen heraus. Auf dem ersten Bild saß ein dunkelhaariges Mädchen an einem Tisch. Sie trug eine schwarze Hose, ihr Oberkörper mit den kleinen spitzen Brüsten war nackt. Sie drehte das Gesicht von der Kamera weg und wollte gerade einen Arm heben, um sich zu schützen, so als ob der Fotograf sie plötzlich überrascht hatte, als er die Kamera hob. Auf dem anderen Bild war sie auch unten herum nackt. Sie lag bäuchlings auf einem Bett mit einem blauen Überwurf. Das Gesicht hielt sie immer noch von der Kamera abgewandt.
    Lisbeth stopfte das Kuvert mit den Bildern in ihre Jackentasche. Danach trug sie die Ordner zum Ofen und riss ein Streichholz an. Als sie fertig war, stocherte sie noch einmal in der Asche. Es goss immer noch in Strömen, als sie einen kurzen Spaziergang unternahm und Martin Vangers Laptop ins Wasser unter der Brücke warf.
     
    Als Dirch Frode um halb acht Uhr morgens die Tür aufmachte, saß Lisbeth rauchend am Küchentisch und trank Kaffee. Frode war aschgrau im Gesicht und sah aus, als wäre er brutal geweckt worden.
    »Wo ist Mikael?«, fragte er.
    »Der schläft noch.«
    Frode setzte sich auf einen Küchenstuhl. Lisbeth goss Kaffee ein und schob ihm die Tasse hinüber.
    »Martin … Ich habe gerade erfahren, dass Martin heute Nacht bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.«
    »Traurig«, sagte Lisbeth und nahm einen Schluck Kaffee.
    Frode hob den Blick und starrte sie verständnislos an. Dann weiteten sich seine Augen.
    »Was …?«
    »Er hatte einen Crash. Zu dumm.«
    »Wissen Sie, was passiert ist?«
    »Er hat das Auto frontal in einen Lastwagen gelenkt. Er hat Selbstmord begangen. Die Presse, der Stress und sein wankendes Finanzimperium,

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