Verblendung
gerade aus den Angeln gehoben worden.
»Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich sie überzeugen konnte, nach Schweden zu kommen. Aber sie lebt, es geht ihr gut, und sie ist hier in Hedestad. Sie ist heute Morgen angekommen und kann in einer Stunde hier sein. Wenn Sie sie sehen wollten, heißt das natürlich.«
Und wieder musste Mikael die Geschichte von Anfang bis Ende erzählen. Henrik Vanger hörte so konzentriert zu, als lausche er der Bergpredigt eines modernen Jesus. An ein paar Stellen unterbrach er ihn mit einer Frage oder bat Mikael, etwas zu wiederholen. Dirch Frode sagte kein Wort.
Als Mikael fertig war, schwieg der Alte. Obwohl die Ärzte versichert hatten, Henrik habe sich von seinem Herzanfall erholt, fürchtete Mikael sich vor dem Augenblick, da er ihm die ganze Geschichte erzählen würde - er hatte Angst, es würde einfach zu viel für seinen Auftraggeber sein. Aber Henrik zeigte keine äußerlichen Anzeichen von Bewegtheit. Nur seine Stimme war vielleicht ein klein wenig belegt, als er das Schweigen brach.
»Arme Harriet. Wäre sie doch nur zu mir gekommen.«
Mikael sah auf die Uhr. Es war fünf vor vier.
»Wollen Sie sie sehen? Sie hat immer noch Angst, dass Sie sie verstoßen könnten, sobald Sie wissen, was sie getan hat.«
»Und die Blumen?«, fragte Henrik.
»Danach habe ich sie auf dem Rückflug gefragt. In der Familie gab es einen Menschen, den sie liebte, und das waren Sie. Die Blumen hat Harriet natürlich selbst geschickt. Sie hoffte, dass Ihnen damit klar würde, dass sie lebte und es ihr gut ginge. Aber sie bekam ihre Informationen ja nur über Anita, und die war ins Ausland gezogen, sobald sie ihr Studium abgeschlossen hatte. Also wusste Harriet nie so richtig, wie sich die Dinge weiterentwickelt hatten. Ihr wurde nie klar, wie schrecklich Sie litten oder dass Sie glaubten, es sei ihr Mörder, der Sie mit diesen Blumen verhöhnte.«
»Ich nehme an, Anita hat die Blumen für sie geschickt.«
»Sie arbeitete bei einer Fluggesellschaft und flog durch die ganze Welt. Sie gab die Pakete dort auf, wo sie sich gerade befand.«
»Aber woher wussten Sie, dass ausgerechnet Anita ihr geholfen hatte?«
»Das Foto, auf dem sie in Harriets Zimmer zu sehen ist.«
»Aber sie hätte ja auch verwickelt sein … sie hätte ja auch die Mörderin sein können. Woher wussten Sie, dass Harriet noch am Leben war?«
Mikael sah Henrik lange an. Dann lächelte er, zum ersten Mal seit seiner Rückkehr nach Hedestad.
»Anita war in Harriets Verschwinden verwickelt, aber sie konnte sie nicht umgebracht haben.«
»Wie konnten Sie da so sicher sein?«
»Weil das hier kein verdammter Agatha-Christie-Krimi ist. Wenn Anita Harriet umgebracht hätte, dann wäre der Körper schon lange gefunden worden. Die einzig logische Möglichkeit war also, dass sie ihr geholfen hatte, zu fliehen und sich versteckt zu halten. Wollen Sie sie sehen?«
»Natürlich will ich Harriet sehen.«
Mikael holte Harriet bei den Fahrstühlen in der Eingangshalle ab. Zunächst erkannte er sie nicht wieder, denn als sie tags zuvor in Arlanda auseinandergegangen waren, war sie noch blond gewesen - jetzt hatte sie ihre alte Haarfarbe wieder. Sie trug eine schwarze Hose, eine weiße Bluse und eine elegante graue Jacke. Sie sah blendend aus, und Mikael gab ihr einen aufmunternden Kuss auf die Wange.
Henrik stand von seinem Stuhl auf, als Mikael Harriet die Tür aufmachte. Sie atmete tief durch.
»Hallo, Henrik«, sagte sie.
Der Alte musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Dann ging Harriet auf ihn zu und küsste ihn auf die Wange. Mikael nickte Dirch Frode zu, schloss die Tür und ließ sie alleine.
Lisbeth war nicht mehr im Gästehäuschen, als Mikael auf die Insel zurückkehrte. Die Videoausrüstung und ihr Motorrad waren weg, ebenso ihre Tasche mit den Kleidern zum Wechseln und die Toilettenartikel im Badezimmer. Es wirkte leer.
Mikael machte in finsterer Stimmung einen Rundgang durch das Häuschen. Plötzlich kam ihm alles fremd und unwirklich vor. Er betrachtete die Papierstapel im Arbeitszimmer, die er in Kartons schichten und wieder zu Henrik zurücktragen musste, aber dazu konnte er sich jetzt nicht aufraffen.
Er ging zum Supermarkt und kaufte Brot, Milch, Käse und etwas zum Abendessen. Als er zurückkam, machte er sich einen Kaffee und setzte sich in den Garten, wo er die Abendzeitungen las, ohne an irgendetwas zu denken.
Gegen halb sechs fuhr ein Taxi über die Brücke. Nach drei Minuten kam es zurück.
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