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Unterhaltungswert. Um die Wahrheit zu sagen, ist Henrik Vanger durch das Aufsehen, das dieser Prozess erregt hat, auf Sie aufmerksam geworden.«
»Ach, tatsächlich? Und wann hätte Herr Vanger gerne, dass ich ihn besuche?«, fragte Mikael.
»So bald wie möglich. Morgen ist Heiligabend, ich denke, da wollen Sie freihaben. Aber was würden Sie zum zweiten Weihnachtsfeiertag sagen? Oder zwischen den Jahren?«
»Sie haben es ja furchtbar eilig. Tut mir leid, aber wenn ich keinen konkreten Anhaltspunkt bekomme, worum es bei diesem Besuch gehen soll, dann …«
»Bitte, Herr Blomkvist, ich versichere Ihnen, dass es sich um ein vollkommen seriöses Angebot handelt. Vanger will Sie und keinen anderen um Rat bitten. Falls Sie interessiert sind, möchte er Ihnen einen Freelancer-Auftrag erteilen. Ich bin nur der Vermittler. Worum es geht, muss er Ihnen selbst erklären.«
»Das ist eines der seltsamsten Telefonate, das ich seit Langem geführt habe. Lassen Sie mich drüber nachdenken. Wie kann ich Sie erreichen?«
Nachdem Mikael aufgelegt hatte, blieb er erst mal sitzen und betrachtete das Chaos auf seinem Schreibtisch. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum Henrik Vanger ihn treffen wollte. Er hatte eigentlich kein großes Interesse, nach Hedestad zu fahren, aber Rechtsanwalt Frode hatte es doch geschafft, ihn neugierig zu machen.
Er schaltete seinen PowerMac G4 ein, gab » www.google . com« ein und suchte nach dem Vanger-Konzern. Er bekam mehrere hundert Treffer - das Unternehmen war in Schwierigkeiten, tauchte aber immer noch fast täglich in den Nachrichten auf. Er speicherte ein Dutzend Artikel, in denen die Firma analysiert wurde, und suchte dann der Reihe nach Informationen über Dirch Frode, Henrik Vanger und Martin Vanger.
Martin Vanger wurde häufig in seiner Eigenschaft als derzeitiger Geschäftsführer des Unternehmens genannt. Der Rechtsanwalt trat weniger in Erscheinung, er war Vorstandsmitglied des Golfclubs Hedestad und wurde in Zusammenhang mit Rotary erwähnt. Henrik Vanger kam mit einer Ausnahme nur in Texten mit Hintergrundinformationen zum Vanger-Konzern vor. Der Hedestads-Kuriren hatte dem ehemaligen Industriemagnaten allerdings ein Kurzporträt gewidmet, als er vor zwei Jahren seinen achtzigsten Geburtstag feierte. Mikael druckte die Texte aus, die ihm Substanz zu haben schienen, und stellte eine Mappe mit ungefähr fünfzig Seiten zusammen. Anschließend räumte er seinen Schreibtisch weiter auf, packte seine Umzugskartons und ging dann nach Hause. Er war nicht sicher, wann oder ob er zurückkehren würde.
Lisbeth Salander verbrachte Heiligabend im Krankenhaus von Äppelvik in Upplands-Väsby. Sie hatte Geschenke gekauft, ein Eau de Toilette von Dior und einen englischen Weihnachtskuchen von Åhléns. Sie trank Kaffee und beobachtete die sechsundvierzigjährige Frau, die mit ungeschickten Fingern versuchte, den Knoten des Geschenkbandes zu lösen. In Salanders Blicken lag Zärtlichkeit, aber sie konnte nie aufhören, sich darüber zu wundern, dass die fremde Frau, die ihr gegenübersaß, ihre Mutter war. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht die geringste Ähnlichkeit feststellen, weder im Aussehen noch in der Persönlichkeit.
Schließlich gab ihre Mutter auf und sah das Paket hilflos an. Es war nicht gerade einer ihrer guten Tage. Lisbeth Salander schob ihr die Schere hinüber, die gut sichtbar auf dem Tisch gelegen hatte, worauf sich das Gesicht der Mutter aufhellte, als wäre sie plötzlich zu sich gekommen.
»Du musst mich für schrecklich dumm halten.«
»Nein, Mama. Du bist nicht dumm. Aber das Leben ist ungerecht.«
»Hast du deine Schwester getroffen?«
»Schon länger nicht mehr.«
»Sie besucht mich nie.«
»Ich weiß, Mama. Mich besucht sie auch nicht.«
»Arbeitest du?«
»Ja, Mama. Ich komme gut zurecht.«
»Wo wohnst du denn? Ich weiß nicht mal, wo du wohnst.«
»Ich wohne in deiner alten Wohnung in der Lundagata. Da wohne ich schon seit ein paar Jahren. Ich konnte den Vertrag übernehmen.«
»Im nächsten Sommer kann ich dich vielleicht einmal besuchen.«
»Natürlich. Nächsten Sommer.«
Zu guter Letzt hatte ihre Mutter das Geschenk auspacken können und schnupperte entzückt. »Danke, Camilla«, sagte sie.
»Ich bin Lisbeth. Camilla ist meine Schwester.«
Die Mutter wirkte beschämt. Lisbeth Salander schlug vor, zusammen in den Fernsehraum zu gehen.
Mikael Blomkvist verbrachte den Nachmittag des 24. Dezember mit der
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