Verblendung
Wirbel losging. Wäre sie zum Festland hinübergeschwommen, hätte man sie außerdem beobachtet. Dutzende von Augen auf der Brücke, und auf der Festlandseite standen zwei- bis dreihundert Menschen am Wasser und schauten dem Spektakel zu.«
»Ein Ruderboot?«
»Nein. An jenem Tag hatten wir hier auf der Insel genau dreizehn Boote. Unten am Bootshafen lagen zwei Petterson-Boote. Es gab sieben Ruderboote, von denen fünf schon an Land geholt worden waren. Neben dem Pfarrhaus lag ein Ruderboot an Land und eins im Wasser. Hinten beim Östergården gab es noch ein Motorboot und ein Ruderboot. All diese Boote sind registriert und lagen an ihrem Platz. Wenn sie hinübergerudert und weggelaufen wäre, hätte sie das Boot aber auf der anderen Seite lassen müssen.«
Vanger hielt einen vierten Finger in die Höhe.
»Damit bleibt nur eine einzige logische Möglichkeit: Harriet verschwand gegen ihren Willen. Jemand hat ihr etwas angetan und ihren Körper verschwinden lassen.«
Lisbeth Salander verbrachte den Weihnachtsmorgen mit der Lektüre von Mikael Blomkvists kontroversem Buch über Wirtschaftsjournalismus. Es hatte zweihundertzehn Seiten, trug den Titel Die Tempelritter und den Untertitel Strafaufgabe für Wirtschaftsjournalisten . Auf dem von Christer Malm trendy gestalteten Cover war die Stockholmer Börse abgebildet. Er hatte das Motiv mit Photoshop bearbeitet, und erst nach längerem Hinsehen fiel dem Betrachter auf, dass das Gebäude in der Luft schwebte. Es gab keinen festen Boden. Man konnte sich schwerlich ein Cover vorstellen, das besser angedeutet hätte, was im Buch folgen würde.
Salander stellte fest, dass Blomkvist ein ausgezeichneter Stilist war. Das Buch war geradlinig und interessant geschrieben, sodass auch Leute ohne Einblick in die Irrwege des Wirtschaftsjournalismus es mit Gewinn lesen konnten. Der Ton war bissig und sarkastisch, aber vor allem überzeugend.
Das erste Kapitel war eine Art Kriegserklärung, bei der Blomkvist kein Blatt vor den Mund nahm. Das Problem war, dass die schwedischen Wirtschaftsjournalisten seiner Meinung nach in den letzten zwanzig Jahren zu einem Trupp unfähiger Laufburschen verkommen waren, die sich an ihrer eigenen Wichtigkeit berauschten, der Fähigkeit zum kritischen Denken jedoch völlig entbehrten. Letztere Schlussfolgerung zog er, weil so viele von ihnen sich stets damit begnügten, widerspruchslos zu wiederholen, was ihnen von Unternehmensleitern und Börsenspekulanten vorgekaut wurde - auch wenn diese Aussagen offensichtlich irreführend oder schlichtweg falsch waren. Solche Journalisten waren also entweder so naiv oder so leicht hinters Licht zu führen, dass man sie von ihren Aufgaben entbinden sollte, oder - umso schlimmer - sie waren Menschen, die ganz bewusst ihre journalistische Sorgfaltspflicht vernachlässigten. Blomkvist behauptete, er schäme sich oftmals dafür, als Wirtschaftsjournalist bezeichnet zu werden, weil er dadurch Gefahr liefe, mit irgendwelchen Typen in einen Topf geworfen zu werden, die er gar nicht als Journalisten betrachtete.
Blomkvist verglich die Tätigkeit der Wirtschaftsjournalisten mit der Arbeitsweise der Polizeireporter und Auslandskorrespondenten. Er wies darauf hin, was für ein Aufschrei durch die Reihen ginge, würde sich der Gerichtsreporter einer großen Tageszeitung in einem Mordprozess unkritisch die Argumente des Staatsanwalts zu Eigen machen, ohne diejenigen der Verteidigung zu prüfen oder die Familie des Opfers zu interviewen, um sich eine eigene Meinung bilden zu können.
Der Rest des Buches war die Beweiskette, die das einführende Plädoyer untermauern sollte. Ein langes Kapitel widmete sich der Berichterstattung sechs führender Tageszeitungen über ein bekanntes Dotcom-Unternehmen. Er zitierte und fasste zusammen, was die Reporter gesagt und geschrieben hatten, bevor er es mit der tatsächlichen Situation verglich. Als er die Entwicklung des Unternehmens beschrieb, warf er immer wieder einfache Fragen auf, die ein »seriöser Journalist« hätte stellen müssen, die aber keiner aus der ganzen Schar gestellt hatte. Ein hübscher Kunstgriff.
Ein anderes Kapitel behandelte den Telia-Börsengang - dies war der spöttischste und ironischste Abschnitt, in dem einige namentlich genannte Schreiber förmlich niedergemacht wurden, darunter auch ein gewisser William Borg, auf den Mikael besonders wütend zu sein schien. Ein weiteres Kapitel am Ende des Buches verglich das Kompetenzniveau schwedischer und
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