Verborgene Lust
überrascht.
»Vielleicht. Wenn du willst, dass ich komme.« Er tritt auf sie zu. »Mach dir keine Sorgen, Valentina.« Er schließt sie fest in die Arme. »Warum siehst du immer so traurig aus?«
Sie verbirgt ihr Gesicht in dem Frottee an seiner Brust und atmet seinen Geruch ein.
»Ich weiß nicht«, flüstert sie an seinem Bademantel. Sie fühlt sich so sicher in Leonardos Armen, dass sie sich nun am liebsten in Mailand verstecken würde, anstatt nach London zu reisen. Dann müsste sie sich nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob sie Thomas anrufen soll oder nicht. Bestimmt hat ihr Exfreund schon eine Neue, oder? Es ist sinnlos, ihn anzurufen. Doch der Schmerz in ihrem Herzen sagt etwas anderes. Konnte eine Liebe wie die ihre so schnell sterben?
Maria
Das Licht von Venedig ist fort. Maria hat das Gefühl, dass in ihrer Heimatstadt selbst bei Regen ein besonderes Licht herrscht. Sie hat es erst nach der Abfahrt aus Venedig bemerkt und musste auf der ganzen langen Reise nach England daran denken. In London ist Frühling, aber der Himmel ist dunkel verhangen, und die Luft riecht nach nichts. Die salzigen Gerüche ihrer Heimatstadt sind verschwunden. Sie läuft an den blühenden Kirschbäumen vorbei, kann ihren Duft jedoch nicht wahrnehmen. Sie wird vom Lärm überwältigt. Autos. Daran ist sie nicht gewöhnt. An diese Aggressivität: das Hupen, die quietschenden Reifen, das Aufheulen der Motoren. Die Auspuffgase dringen in ihre Lungen, sie hat das Gefühl, von ihnen vergiftet zu werden. Sie hasst Autos. Ihre Mutter hat sie mit den venezianischen Booten verglichen, aber das ist nicht das Gleiche. Die Boote fügen sich ein in ihre Umgebung, gleiten durch die Kanäle und schaukeln über die Wellen der Lagune. Die Autos, Lastwagen und Busse sind ein Gegensatz zu jeglicher Form von Natur, die es vielleicht in der Stadt noch gibt. Doch trotz des einschüchternden Lärms, der Menge und der bloßen Größe der Stadt ist Maria von London fasziniert. Selbst wenn sie durch zerbombte Straßen läuft, herrscht dort trotz allem eine lebensbejahende Atmosphäre.
In Venedig waren sie besser dran gewesen, die Schätze der Stadt hatten sie vor heftigen Bombenangriffen geschützt. Nur einmal hatte sie einen Angriff auf die Hafenanlagen beobachtet. Trotz Pinas Vorbehalten waren die beiden Frauen und Maria auf das Dach der Wohnung geklettert. Genau wie ihre Mutter gesagt hatte, waren sie dort absolut sicher gewesen. Die Bomber stürzten fast senkrecht nach unten und griffen zwei große Schiffe im Hafen an. Als diese explodierten, hatte es wie ein spektakuläres Feuerwerk ausgesehen, an Land waren jedoch nur ein paar Fensterscheiben zersprungen.
In London sieht es anders aus. Maria erkennt deutlich, wie die Stadt gelitten hat. Sie versucht sich vorzustellen, wie es gewesen sein muss, sich Nacht für Nacht im schmutzigen Keller zu verstecken, um schließlich eines Morgens hinauszukommen und festzustellen, dass das eigene Haus, die Straße und die Nachbarn verschwunden waren. Dennoch wirken die Menschen, die ihr 1948 in den Straßen von London begegnen, nicht gebrochen. Sie haben den Krieg gewonnen. Mit ihrer Einstellung haben die Engländer die Luftangriffe überstanden. Maria fasziniert ihr Nationalstolz. Als sie ein Kind war, hegten ihre Mutter und Pina einen Hass gegen Mussolini und schämten sich dafür, dass Italien sich mit Deutschland verbündet hatte. Sie meinten, dies sei nicht ihr Italien, vor allem wenn Juden geopfert würden.
»Italiener sind nie Rassisten gewesen!«, erklärte ihre Mutter mit Nachdruck. »In was zieht dieser Wahnsinnige uns da hinein?«
Ihre Mutter hatte getan, was sie konnte, um Mussolini und anschließend die Deutschen zu unterminieren, nie offen, immer subversiv. Sie half so vielen Juden wie möglich zu fliehen oder sich zu verstecken. Jacqueline war nicht die einzige. Obwohl sie in Venedig einigermaßen sicher waren, riskierte Belle damit ihrer aller Leben. Zum Glück nahm niemand Belle und ihre Gefährtin Pina ernst. Sie waren nur zwei Frauen mittleren Alters, die sich exzentrisch kleideten und Bilder von Touristen sowie, während des Krieges, von unzähligen Nazis machten, die die Sehenswürdigkeiten der Stadt bewunderten.
Maria bleibt an einer Kreuzung stehen. Sie holt den Umschlag aus der Manteltasche und öffnet ihn. Auf dem Straßenschild steht: Ebury Bridge Street. Laut der Wegbeschreibung ihrer Mutter muss sie hier abbiegen. Sie ist fast da. Endlich. Von der langen Eisenbahnfahrt
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