Verborgene Lust
soll Sie willkommen heißen«, sagt Guido plötzlich, als habe er Marias Gedanken gelesen. »Wir sind Freunde«, fügt er erklärend hinzu.
»Danke«, erwidert Maria knapp. Noch immer weiß sie nicht, was sie Guido Rosselli sagen soll. Seine Augen sind von der Brille abgeschirmt und unmöglich zu erkennen. Plötzlich steht er auf und stellt Tasse und Untertasse auf das Tablett.
»Wir wissen, was es heißt, fremd zu sein«, erklärt Guido. »Jacqueline und ich empfinden dasselbe.«
Er wendet Maria den Rücken zu, tritt ans Fenster und verschränkt die Hände auf dem Rücken. Maria sieht, wie schmal er ist: seine Schultern, sein Rücken, seine Hüften. Als wäre er noch nicht ganz zum Mann gereift.
»Wir haben keine Familie mehr.« Er fährt herum. »Also machen wir uns hier unsere eigene Familie. Jeder in diesem Haus ist auf seine Weise eine einsame Seele.«
Überschwänglich fährt er fort:
»Mrs. Renshaw zum Beispiel. Sie hat bei einem Bombenangriff in einer Nacht all ihre Angehörigen verloren. Ihren Mann, ihre Mutter, die Kinder. Sie begreift noch immer nicht, warum sie verschont wurde. Deshalb stören wir uns nicht so sehr an dem Kohl. Wenn man hier wohnt, muss man nachsichtig sein, wissen Sie?«
Maria nickt. Die offene Art von Guido Rosselli ist ihr unangenehm. Sie will nichts über die Leute im Haus wissen. Sie will noch nicht einmal etwas über ihn wissen. Sie spürt, dass er eine traurige Vergangenheit hat, und will seine Leidensgeschichte nicht hören. Sie fühlt sich müde und schmutzig, will baden, sich ausruhen und auf Jacqueline warten. Plötzlich wünschte sie, sie wäre zu Hause in Venedig geblieben. Sie ist nicht wie ihre Mutter Belle, obwohl sie gedacht hat, dass sie es sein könnte. Sie ist keine Abenteuerin, sie ist eher häuslich wie Pina.
»Und im zweiten Stock wohnt Monsieur Leduc.« Guido lacht kurz auf. »Warten Sie, bis Sie ihm begegnen!«, ruft er, schiebt die Hände in die Taschen und läuft im Zimmer auf und ab.
Er geht immer weiter und scheint ganz zu vergessen, dass sie noch im Raum ist.
»Aus Liebe zu seinem Frankreich hat er alles geopfert, und jetzt lebt er in London. Können Sie mir das erklären?«
Guido legt den Kopf schief und starrt Maria an, sieht jedoch durch sie hindurch. Sie verändert ihre Haltung.
»Entschuldigen Sie, Guido, aber wo ist das Bad?«
»Oh.« Er fährt zusammen, als erwache er aus einem Traum.
»Sie müssen die Treppe hinunter in die nächste Etage gehen. Es ist die Tür neben meiner Wohnung.«
Abwesend fährt er sich durch die dichten Haare.
»Danke.«
Maria nimmt ihre Handtasche, verlässt die Wohnung und geht die Treppe hinunter ins Bad. Ihr ist etwas übel. Sie hält sich den Bauch, atmet tief ein und versucht ihren aufgewühlten Magen zu beruhigen. Sie möchte so gern ein Bad nehmen oder sich waschen, aber sie darf nicht so lange wegbleiben. Also wäscht sie sich, so gut sie kann. Es gibt nur ein kleines Handtuch, und sie hat keine Ahnung, wem es gehört. Also wäscht sie sich die Hände und spritzt sich etwas Wasser ins Gesicht, dann frischt sie ihr Make-up auf. Sie trägt zu viel Rouge auf die Wangen auf und reibt es mit ihrem Taschentuch wieder ab. Dann blickt sie in den Spiegel, sie sieht müde und erhitzt aus. Ihre Mutter und Pina sagen immer, wie hübsch sie sei, wie sehr sie mit ihren dunkelblauen Augen, ihren rosigen Wangen und den lockigen Haaren ihrem Vater gleiche. Heute sieht sie allerdings wie ein Schreckgespenst aus. Sie hätte lieber die Eleganz ihrer Mutter geerbt: die seidigen schwarzen Haare und den Porzellanteint anstelle der wilden Locken und rosigen Wangen. Sie will nichts von ihrem Vater haben. Schließlich hat er sich nie für sie interessiert. Diese Empfindungen hat sie ihrer Mutter gegenüber nie geäußert, weil Belle von ihrem Vater wie von einem Gott spricht. Aber Maria hat häufig beobachtet, wie sich Pinas Miene verhärtet, wenn die Rede auf Santos Devine kommt. Ihr Gesicht verrät, dass Marias Vater kein so großartiger Mann war. Maria holt einen Kamm hervor und versucht, ihre Haare zu bändigen. Aber egal, ob sie versucht, sie zu glätten oder in eine Art Frisur zu drehen, sie wollen sich nicht fügen.
Als Maria die Treppen wieder hinaufsteigt, hört sie Stimmen. Sofort hebt sich ihre Stimmung. Jacqueline ist nach Hause gekommen. Sie öffnet die Tür, und da steht ihre Tanzlehrerin, die Frau, die ihr beigebracht hat zu träumen.
»Maria!«, ruft Jacqueline und schließt sie fest in die Arme. »Meine liebe
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