Verborgene Lust
hinein. Sie befinden sich direkt unter dem Dach, und Maria tritt sofort an eines der Fenster. Unter ihr liegt das von Bombenangriffen zerstörte, aber dennoch blühende London. Sie spürt sein geschäftiges Vibrieren, und es begeistert sie. Die Energie ist so ganz anders als in Venedig, eine Stadt, an der die Zeit vorüberzieht. London scheint voranzuschreiten, angeschlagen, aber heldenhaft.
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«, fragt Guido steif auf Englisch.
»Wie wäre es mit einem englischen Tee?«, wagt Maria einen Gegenvorschlag.
Guido schüttelt bedauernd den Kopf.
»Tut mir leid, ich glaube, Jacqueline ist gerade der Tee ausgegangen. Hier ist immer noch alles streng rationiert. Tee gilt als Luxusgut. Es ist leichter an Kaffee heranzukommen, der ist in England nicht so beliebt.«
»Wenn das so ist, nehme ich sehr gern eine Tasse Kaffee. Vielen Dank.« Maria setzt ihren Hut ab und legt ihn zusammen mit Handschuhen und Handtasche auf das Sideboard.
Guido verschwindet durch eine Seitentür. Maria vermutet, dass sich dahinter die Küche befindet. Sie blickt sich in der Wohnung ihrer Mentorin um. Der Raum ist ziemlich leer, was Maria nicht überrascht, denn schließlich ist Jacqueline ein Flüchtling. Sie ist den Großteil des Krieges auf der Flucht gewesen, und als sie schließlich nach Bordeaux zurückgekehrt ist, war ihr Zuhause zerstört. Doch trotz der spärlichen Einrichtung – ein Tisch, zwei Stühle und ein Bücherregal – ist es Jacqueline gelungen, ihrem Heim eine besondere Note zu verleihen. An einer Wand hängt ein beeindruckendes Gemälde in leuchtenden Farben. Ob Jacqueline den Künstler kennt? Das würde zu ihr passen. An der anderen Wand hängt eine Serie mit Schwarzweißfotografien von Tänzern, die Maria genau studiert. Alle tragen Kostüme und sind stark geschminkt. Maria hat Schwierigkeiten, Jacqueline zu erkennen. Ihre Haltungen widersprechen jeglichen traditionellen Ballettfiguren. Auf einem Bild bemerkt sie eine Frau, deren Beine in Strumpfhosen ohne Füße stecken. Sie ist barfuß, trägt ein langes Oberteil, und ihr Kopf ist von einem Schal verdeckt. Sie stellt einen Baum dar, indem sie die Arme zur Seite ausstreckt, eine Hand nach oben und die andere nach unten richtet. Vor ihr auf dem Boden liegen zwei Tänzerinnen auf dem Rücken, heben die Beine in die Luft und neigen die nackten Füße. Sie strecken die Arme nach der Baumgestalt aus. Der Anblick ist fast hässlich. Verglichen mit den hübschen Fotografien von Ballerinas, die Maria sonst kennt, wirken sie grob und vulgär.
Hinter ihr geht die Tür auf, und Guido kehrt mit einem Tablett zurück, auf dem eine Kaffeekanne mit zwei Tassen steht. Er trägt es zum Regal, wobei die Tassen auf den Untertassen klappern. Maria bemerkt, wie das Tablett in seinen Händen zittert, und beherrscht sich, ihm nicht zu Hilfe zu eilen, um es ihm abzunehmen. Sie will ihn nicht beleidigen. Er setzt das wackelige Tablett ab, und Maria bemerkt, dass seine Hände noch immer zittern. Sie betrachtet erneut sein Gesicht. Konzentriert schenkt er den Kaffee in die Tassen. Trotz des Schnurrbarts wirkt er nur zwei oder drei Jahre älter als sie. Was tut er hier in London?
»Also, woher kommen Sie?«, fragt Guido, während er ihr mit zitternden Händen eine Tasse Kaffee reicht. Dabei schwappt etwas über den Rand der Tasse, aber Maria schweigt höflich, nimmt auf einem von Jacquelines Stühlen Platz und hält den Kaffee in beiden Händen.
»Venedig.«
Guidos Blick hellt sich auf.
»Ich war als kleiner Junge in Venedig«, sagt er. »Mit meiner Mutter und meinem Vater …« Er zögert und wendet den Blick ab. »Vor dem Krieg.«
»Und woher stammen Sie?«, fragt Maria.
»Ich komme aus Mailand, aber jetzt studiere ich an der Londoner Universität«, erklärt er.
»Und was studieren Sie?«
»Physik. Mein Vater hat mich vor dem Krieg nach England geschickt. Er war selbst Wissenschaftler und erkannte, dass meine Begabung ebenfalls auf diesem Gebiet liegt. Also bin ich hier in England zur Schule gegangen. Dann brach der Krieg aus, und ich konnte nicht mehr zurück nach Hause.«
»Und sind Sie seither noch einmal dort gewesen?«
Er trinkt einen großen Schluck Kaffee und sieht sie mit düsterem Blick an.
»Nein.«
Die Schärfe seiner Antwort lässt sie verstummen. Maria merkt, dass sie vor Scham errötet. Sie weiß nicht, was sie diesem jungen Mann sagen soll. Sie wünschte, er würde sie allein auf Jacqueline warten lassen.
»Jacqueline hat gesagt, ich
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