Verborgene Lust
ein.
»Zweiundzwanzig, Herzchen, und das ist ein großer Unterschied. Glaub mir.«
Joan hält inne, drückt die Zigarette aus und beißt in ihr Rosinenbrötchen. »Obwohl ich mit siebzehn zum ersten Mal verliebt war. Doch das war noch im Krieg. Im Krieg wird man schnell erwachsen. Da liegen die Dinge anders.«
»In welcher Hinsicht?«
»Nun, das musst du doch wissen. Ich meine, du hast in besetztem Gebiet gewohnt und warst in großer Gefahr. Ihr habt all diese Menschen versteckt und ihnen bei der Flucht geholfen.«
»Nicht ich, sondern meine Mutter. Ich war zu jung, ich kannte es nicht anders. Die meiste Zeit war es ruhig. Venedig ist nur einmal bombardiert worden, und da auch nicht die Stadt selbst.«
»Nun, hier war es alles andere als ruhig, das sage ich dir. Ich wollte Tanz studieren und war mit Lempert und Jooss unten in Dartington Hall.«
Joan zerpflückt ihr Rosinenbrötchen in winzige Stücke, schiebt sich eins nach dem anderen in den Mund und genießt jeden Bissen.
»Wo ist das?«
»Das ist ein legendärer Ort in Devon, eine Schule für darstellende Kunst. Ach, es hat mir so gut dort gefallen.« Sie seufzt und pickt mit der Fingerspitze die letzten Krümel auf. »Aber es war schließlich Krieg, und deshalb bin ich nach London gekommen. Ich wollte mich nützlich machen, ich wollte dabei sein, weißt du?«
Joans Lächeln verblasst. Sie schüttelt den Kopf.
»Gott, ich war ganz sicher dabei.«
Sie zögert, trinkt noch einen Schluck Tee und fährt fort:
»Aber als die Amerikaner kamen, hatten wir diese fantastischen Tanzabende. Da habe ich Stan kennengelernt, einen amerikanischen Piloten. Er sah aus wie Clark Gable. Wirklich, ich schwöre es dir. Er war so schön. Ich habe mich auf der Stelle in ihn verliebt.«
»Und was ist passiert?«, will Maria wissen.
Joan schlägt die Hände an die Brust und erklärt in dramatischem Ton:
»Er hat mir das Herz gebrochen.«
Die Erzählung gefällt Maria. In ihrem Leben mit Belle und Pina gab es keine Liebesgeschichten mit Männern, und die von dem amerikanischen Piloten Stan ist aufregend. Ist er im Kampf gefallen? Wurde er vermisst?
»Was ist geschehen?«, fragt Maria atemlos.
»Der Schurke war zu Hause in Ohio verheiratet. Das hat er mir aber erst erzählt, nachdem er mich entkorkt hatte.«
»Wie bitte?«
Joan kichert. »Du weißt schon … Er hat mir die Unschuld genommen.« Sie zwinkert Maria zu, die schlagartig errötet.
»Ach, ich weiß, das klingt, als wäre ich ein billiges Flittchen, aber es war so anders im Krieg. Wenn man jemand traf und sich zu ihm hingezogen fühlte, tat man es eben. Schließlich konnte er am nächsten Tag tot sein.« Sie trinkt den letzten Schluck Tee. »Also habe ich Stan das Beste gegeben, das ich hatte. Ich hoffte, dass es wie ein Talisman sein Leben schützen würde. Ich glaube, das hat es auch, aber nicht für mich, sondern für seine kleine Frau zu Hause in den USA.«
Joan verzieht das Gesicht.
»Ich kann mir dich nicht als amerikanische Hausfrau vorstellen«, versucht Maria ihre neue Freundin zu trösten.
Joan funkelt sie verschmitzt an. »Genau, Herzchen, da hast du vollkommen recht. Ich bin ganz sicher noch nicht bereit, eine Familie zu gründen. Ich will Spaß haben.«
Maria nickt, sie weiß nicht, was sie antworten soll. Sie hat bislang sehr behütet gelebt. Keine Tänze mit amerikanischen Soldaten oder Liebesgeschichten irgendwelcher Art.
Joan blickt auf ihre Armbanduhr. »Wir sollten lieber zurückgehen.«
Die Mädchen sammeln ihre Sachen ein. Als sie aus dem Café eilen, fasst Joan Maria am Ärmel und drückt fest ihren Arm.
»Ich bin so froh, dass wir uns unterhalten haben. Die anderen Mädchen sind alle so hochnäsig. Es ist schön, eine richtige Freundin zu haben.«
Maria sieht Joan überrascht an. Sie haben sich gerade erst kennengelernt, wie kann Joan da schon von Freundschaft sprechen?
»Was machst du heute Abend?«, fragt Joan und ignoriert ihre Miene. »Hättest du Lust, mit mir tanzen zu gehen? Ein paar Männer kennenzulernen?«
Valentina
Das Taxi schlängelt sich durch die überfüllten Londoner Straßen. Die Stadt wirkt wie ein riesiges Tier, das Auspuffgase in den Regen stößt. Der Puls der Stadt erscheint Valentina schneller als der ihres geliebten Mailands.
»Mikhail will, dass ich mit ihm nach Russland fahre«, sagt Antonella, die neben ihr auf der Rückbank des schwarzen Taxis sitzt.
»Will er, dass du seine Familie kennenlernst?« Valentina hört ihrer Freundin nur mit halbem
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