Verborgene Lust
Valentina. Schließlich hast du mich dazu ermutigt, die Domina in mir auszuleben. Jetzt, wo wir in London sind, müssen wir dorthin gehen.«
»Ich glaube, ich habe nur etwas gegen die Gummikostüme. Ich wünschte, wir könnten einfach unsere eigene Kleidung tragen. Lieber wäre ich nackt und nur mit einem roten Umhang bekleidet wie die O.«
»Wie wer?«
»Die O. in der Geschichte der O. von Pauline Réage. Das ist die bekannteste erotische Erzählung überhaupt. Sag nicht, dass du sie nicht kennst.«
»Du weißt doch, dass ich keine Bücher lese«, erklärt Antonella. »Einen Laden wie Torture Gardens besucht man extra, um dort Gummi zu tragen.« Antonella schlägt Valentina auf den Rücken. »Na, komm schon, schieb deinen devoten Hintern in den Aufzug. Ich kann es kaum abwarten, mit Tante Isabella einen Drink zu nehmen.«
Valentina öffnet den Stadtplan und blickt erneut auf die Karte. Antonella hat sie bei ihrer Tante in South Kensington gelassen. Die zwei waren dabei, eine Flasche Soave zu leeren und eine Schale gefüllter Oliven zu futtern. Valentina findet es ziemlich offensichtlich, von wem in der Familie Antonella ihre wilde Seite geerbt hat. Obwohl Isabella doppelt so alt wie ihre Nichte ist, hat sie noch immer genauso feuerrote Haare und ist ähnlich temperamentvoll. Sie ist die Schwester von Antonellas Vater Alessandro, der die Familie wegen einer jüngeren Frau verlassen hat, als Antonella zehn Jahre alt war. Isabella, eine Zeitungsredakteurin, fühlte sich berufen, die väterliche Familie in Antonellas Leben zu repräsentieren und hat nie den Kontakt zu ihrer Nichte verloren. Sie besitzt den gleichen Sexappeal wie Antonella und die gleiche direkte Art. Sie hat Valentina gleich nach ihren erotischen Fotografien ausgefragt und darauf bestanden, die gesamten Arbeiten auf ihrem Laptop zu sehen. Ganz offensichtlich war sie entzückt von den Nacktbildern ihrer Nichte, während sie Valentina zugleich gefragt hat, ob das nicht frauenverachtend sei. Mit ihrer letzten Frage hat sie Valentina etwas verstimmt:
»Und was sagt deine Mutter zu den Fotografien?«
Valentina hat ziemlich deutlich erklärt, dass sie die Bilder ihrer Mutter nicht gezeigt hat und auch nicht vorhat, das zu tun. Daraufhin hatte Isabella nichts erwidert, sondern nur erstaunt die Brauen gehoben. Valentina weiß, dass Isabella gut mit ihrer Mutter befreundet war, als beide in den Sechziger- und Siebzigerjahren in Mailand lebten. Trotz Isabellas Begeisterung für ihre Bilder fragt Valentina sich nun, was ihre Mutter zu der Ausstellung in London sagen würde. Sie fühlte sich nicht bemüßigt, es ihr zu erzählen. Auch Mattia hat sie nichts gesagt. Seit der Trennung von Thomas hatte sie es vermieden, mit ihrem Bruder zu sprechen. Als er jedoch an Weihnachten anrief, musste sie es ihm erzählen. Sie schämte sich, ihrem Bruder, der seit Jahren glücklich verheiratet ist, ihre Bindungsunfähigkeit zu gestehen. Obwohl Mattia Thomas nur einmal getroffen hatte, weiß sie, dass er ihn mochte. Er hatte sogar angedeutet, dass er »der Richtige« sein könnte. Wenn es so etwas überhaupt gibt, denkt Valentina mürrisch.
Der Regen hat aufgehört, und während sie eilig die feuchten Straßen hinunterläuft, fängt es an zu dämmern. Das ist also Soho. Es ist anders, als sie es sich vorgestellt hat. Sie hat auffällige Sexshops und Peepshowläden erwartet, doch stattdessen sieht sie nur trendige Cafés, originelle Geschäfte, kleine Bistros und Galerien. Die kreative Atmosphäre des Viertels gefällt ihr. Es ist ein kleines Gebiet mit einem Labyrinth aus Straßen. Sie läuft weiter umher, bis sie schließlich die Lexington Street findet. Die Galerie liegt ganz am Ende der Straße. Sie blickt auf ihre Armbanduhr. Sechs Uhr. Auf die Minute. Sie klingelt und muss einen Moment warten, dann meldet sich jemand über die Gegensprechanlage.
»Valentina Rosselli. Ich möchte zu Kirsti Shaw.«
Die Tür klickt, Valentina drückt sie auf. Sie geht an einem verlassenen Empfangsbereich vorbei und betritt die eigentliche Galerie, einen quadratischen weißen Raum. Offenbar wird die Ausstellung gerade gehängt. An einer leeren Wand lehnt eine Leiter, an der Wand daneben hängen bereits Gemälde, auf die zwei Scheinwerfer gerichtet sind. Valentina geht durch den Raum und betrachtet die anderen Arbeiten. Anscheinend nehmen zehn Künstler an der Ausstellung teil, von denen jeder sechs Arbeiten zeigt. Sie entdeckt ihre Fotografien in einem Stapel an der
Weitere Kostenlose Bücher